Soziokratie bedeutet ganz allgemein "Gemeinschaftsherrschaft". Genaueres finden Sie hier und hier. An dieser Stelle soll es nur um einen näheren Blick auf die Gemeinschaft der Herrschaft, das Gemeinschaftliche gehen. Wie unterscheidet das "Sozio" in "Soziokratie" diese "Herrschaftsform" von anderen?
Autokratie
Der Kontrast zur Autokratie könnte Größer nicht sein. Sie setzt klar auf die Herrschaft eines Einzelnen (oder ganz weniger) über viele. Einer sagt an, die Masse gehorcht. Das kann zwar sehr effizient sein - aber es gibt keine Garantie dafür, dass Bedürfnisse über die der Autokraten hinaus berücksichtigt werden. In der Definition von Autokratie findet sich kein Hinweis auf die Interessen der Befehlsempfänger. Sie sind allein vom Wohlwollen der Autokraten abhängig.
Demokratie
Aber was ist mit der Demokratie? Als Volksherrschaft ist sie der Gegenentwurf zur Autokratie. Sie nimmt für sich in Anspruch, die Bedürfnisse aller zu berücksichtigen. (Zumindest derjenigen, die zum Volk gehören und eine Stimme haben.) Ist Demokratie damit nicht schon genug Herrschaft der Gemeinschaft? Warum die Unterscheidung zwischen Demokratie und Soziokratie?
Als Gegenentwurf zur Autokratie ist es das Hauptanliegen der Demokratie, vor allem den Makel der Autokratie ausmerzen: die Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der Befehligten. Demokratie ist daran gelegen, nicht die Wünsche weniger, sondern die Wünsche vieler, die der Mehrheit zu erfüllen.
Das hat allerdings einen Preis: Demokratie ist ineffizient.
Wenn einer bestimmt, sind viele unglücklich - aber die Umsetzung geht schnell, weil der eine bei Zuwiderhandlung seine Macht spielen lässt. Autokratie ist insofern oft gleichzusetzen mit Angstherrschaft.
Wenn viele bestimmen, sind viele glücklich - aber die Umsetzung dauert lange. Denn bis die Vielen eine tragfähige Mehrheit gebildet haben, vergeht einige Zeit.
Wo viele Menschen mit ihren Bedürfnissen ein Forum haben, da stellt sich schnell heraus, dass diese Bedürfnisse oft weit auseinandergehen. Im Extremfall gibt es soviele Bedürfnisse ausgedrückt in Meinungen, wie es Gemeinschaftsmitglieder gibt. Für eine Entscheidung des Volkes ist jedoch eine Mehrheit nötig. Die Gemeinschaft als soziales System muss einen erkennbaren eigenen Wunsch haben. Als Schwelle dafür wird gemeinhin die 50%-Marke gewählt: erst wenn 50% der Gemeinschaftsmitglieder plus ein weiteres (50%+1) für dieselbe Option stimmen ("einfache Mehrheit"), gilt das als Ausdruck eines gemeinschaftlichen Willens.
Jenachdem, wieviele Meinungen es in einer Gemeinschaft gibt, kann der Weg zur einfachen Mehrheit lang und steinig sein. Es gilt zumindest soviel Konsens unter den Gemeinschaftsmitgliedern zu entwickeln, dass 50%+1 Stimmen auf eine Option entfallen.
Wie die neuere Geschichte der Demokratie gezeigt hat, ist das jedoch ein Preis, den Gemeinschaften bereit sind zu zahlen. Der Gewinn an Chance zur breiten Bedürfnisberücksichtigung ist groß genug im Vergleich zum Verlust an Effizienz.
Grenzen der Demokratie
In der Entscheidung über viele Belange vom Verein bis zur Nation mag der Verlust an Effizienz tatsächlich nicht schwer wiegen. Verständlich sollte es jedoch sein, dass sich Demokratie angesichts dessen bisher nicht als Herrschaftsweise in Unternehmen eingebürgert hat.
Unternehmen müssen oft effizienter über ihre Grundsätze und ihre Politik entscheiden, als es ein Konsensprozess erlaubt.
Dazu kommt, dass ein Unternehmen qua Definition autokratisch ist, da es wenige Gründer bzw. Inhaber hat - die Gesellschafter -, die aufgrund ihres Eigentums an der Firma sich nicht so gern das Heft vom "Volk" aus der Hand nehmen lassen.
Aber die Demokratie findet nicht nur in ihrer Ineffizienz eine Grenze. Ein weiterer Nachteil erwächst aus ihrer Definition, die verwoben ist mit dem Mehrheitsbegriff. Demokratie ist nicht nur wörtlich Volksherrschaft, sondern praktisch Mehrheitsherrschaft.
Klingt ganz natürlich und nicht schlimm? Nun, das hängt vom Standpunkt ab: Wer zur Mehrheit gehört, der findet das nicht schlimm. Wer aber zur überstimmten Minderheit gehört... der mag sich grämen. Wo 50%+1 Gemeinschaftsmitglieder bestimmen, sind 50%-1 Gemeinschaftsmitglieder notwendig unzufrieden. Zwar haben sie ihre Chance gehabt - doch am Ergebnis ändert das nichts. Auch Demokratie erfüllt gewöhnlich die Wünsche von 50%-1 Gemeinschaftsmitglieder nicht.
Das muss kein Problem sein, aber es kann. Ob es zu einem Problem wird, ist den überstimmten Gemeinschaftsmitgliedern überlassen. Wie verhalten sie sich nach ihrer Niederlage zur mehrheitlich ausgewählten Entscheidungsoption?
"Guter Sportsgeist" gebietet natürlich den Glückwunsch an die Mehrheit und willige Fügung in den Beschluss. Demokratie erwartet von der Minderheit, dass sie nach der Niederlage die Mehrheit so unterstützt, als sei die Entscheidung für die Minderheitsmeinung gefallen.
Aber ist das realistisch? Im Großen und Ganzen scheint es gut genug zu funktionieren. Vom Verein bis zur Nation leben wir damit, dass die Minderheiten zumindest gut genug bei der Sache der Mehrheit mitmachen. Darüber hinaus jedoch... Der mehr oder weniger offene Widerstand von Minderheiten ist ein weiterer Grund, warum sich Demokratie nicht für den Einsatz in Organisationen anbietet, die kurzfristig Nutzen produzieren sollen.
Wo keine autokratische Macht herrscht, ist die Gefahr zu groß, dass, wer unterliegt, zu einem Widerstandsnest wird. Unberücksichtigte Wünsche verschwinden ja nicht. Sie verwandeln sich nur. Das ist innerhalb jedes Menschen so und kann bis zur psychischen Störung führen. Das ist auch so in sozialen Systemen.
Unterdrückte Wünsche, die nicht durch Macht über die Gemeinschaftsmitglieder kompensiert werden, suchen sich Ventile. Weitere Ineffizienz ist die Folge.
Von Demo zu Sozio
Autokratie ist effizient, aber ignorant der Gemeinschaft gegenüber. Demokratie ist ineffizient, aber gemeinschaftsorientiert; dennoch erfüllen sich die Wünsche von 50%-1 der Gemeinschaftsmitglieder nicht.
Tertium non datur?
Der Anspruch der Soziokratie ist es, die Vorteile beider Führungsmodelle zu verbinden und ihre Nachteile zu vermeiden. Das hört sich natürlich wie die Quadratur des Kreises an.
Dass der Soziokratie dennoch eine Lösung gelingt, liegt in ihrem Verzicht auf Konsens.
Wie die Demokratie geht es der Soziokratie darum, dass nicht einfach so Wenige über Viele herrschen. Sie gibt also den Vielen ein Forum.
Wie dieses Forum dann jedoch Entscheidungen trifft, das ist ganz undemokratisch. Die Soziokratie fragt nämlich nicht nach der Zahl der Stimmen für eine Option. Ihr ist es egal, wer dafür ist. Sie interessiert sich auch nicht für platte Meinungen.
Für die Soziokratie zählen allein Argumente. Und zwar Gegenargumente. Ihr ist daran gelegen, Widerstände gegen Optionen aufzudecken. Und sind die Widerstände in Form substanzieller Gegenargumente geäußert, dann arbeitet die Soziokratie an ihrer Integration.
Die Gemeinschaft ist in der Soziokratie kein Gebilde, das mühsam geeinigt werden müsste. Sie ist vielmehr Menge von Sensoren, die wertvollen Input über Grenzen der Machbarkeit und Eignung von Entscheidungsoptionen liefern kann.
Eben das macht Soziokratie dann auch effizient. Ohne Konsenszwang kann sich die Gemeinschaft darauf konzentrieren, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Und zwar substanzielle Hindernisse, denn in der soziokratischen Gemeinschaft geht es ums sachliche Gegenargument. Negative Emotionen zu einer Option sind als Einstieg in die Diskussion willkommen - aber sie müssen dann auf substanzielle Widerstände zurückgeführt werden können.
Das geht aller Erfahrung nach deutlich schneller als die Erzielung eines Konsens. Das hält Widerstände sichtbar, statt sie durch Überstimmungsniederlage in den Untergrund zu treiben. Das nimmt gerade die negative Befindlichkeit jedes Gemeinschaftsmitgliedes ernst.
Soziokratie bezeichnet sich daher auch gern als "Herrschaft des Arguments". Wo bei der Demokratie letztlich nur das Kreuz auf einer Wahlkarte ohne jede Erklärung ausreicht, da wird die Soziokratie persönlich. Sie will es genau wissen, warum sich ein Gemeinschaftsmitglieder nicht gut mit einer zu fällenden Entscheidung fühlt. Denn nur das zählt. Egal wieviele dafür sind, am Ende ist jeder latente Widerstand ein potenzieller Keim für Ineffizienz im Tagesgeschäft der Organisation.
Autokratie interessiert sich nur für die wenigen Autokraten. Demokratie interessiert sich vor allem für die (anonyme) Mehrheit.
Soziokratie integriert beide Sichtweisen in einer Gemeinschaft, die jedem Einzelnen mit seinen Gegenargumenten Gehör schenkt.