Freitag, 19. November 2010

Entscheidung in der Freiheit mit Konsent

Stellen Sie sich vor, Sie stünden vor der Entscheidung Ihres Lebens. Sie haben nur eine Chance und nur zwei Alternativen: Nehmen Sie das Jobangebot aus Tokyo an oder nicht? Oder: Heiraten Sie einmal im Leben und bleiben mit einem Menschen zusammen oder nicht? Oder: Werden Sie Gehirnchirurg oder Konzertpianist?
Die meisten Menschen würden bei solchen Entscheidungen sehr, sehr gründlich abwägen. Nicht umsonst gibt es das Sprichwort “Drum prüfe, wer sich ewig bindet.”
Entscheiden in der Unfreiheit
Ich denke, die allgemeine Regel könnte man so formulieren:
Je stärker Entscheidungen binden, desto größer der Optimierungsbedarf.
Bindung ist nun aber das Gegenteil von Freiheit. Wer gebunden ist, hat weniger Freiheitsgrade. Wenn Sie sich nicht für Tokyo entschieden haben, haben Sie eine Tür im Leben geschlossen. Einmal verheiratet, haben Sie sich gegen alle anderen potenziellen Partner(innen) entschieden – für Ihr ganzes Leben. (Zumindest war es früher einmal so.) Wer Gehirnchirurg ist, kann nicht gleichzeitig Konzertpianist sein und auch nicht Sternekoch oder Staranwalt.
Je stärker Entscheidungen für etwas ausschließen, sich früher oder später umzuentscheiden, desto geringer die Freiheit im Zusammenhang mit den Entscheidungen.
Wer nun aber Freiheit aufgibt oder nur geringe Freiheitsgrade hat, der versucht – ganz selbstverständlich – das Beste draus zu machen.
Wo irgendwelche “Ressourcen” stark belastet werden mit einer Entscheidung, da will sie wohl abgewogen sein. Sind Zeit, Geld, Aufmerksamkeit, Alternativen knapp, muss man sorgfältig auswählen.
Nun die umgekehrte Blickrichtung: Wo Entscheidungen optimiert werden, da muss wohl die Situation mit Unfreiheit zu tun haben. Da ist irgendetwas knapp. Da geht es um starke Bindung, d.h. spätere Alternativlosigkeit.
Was bedeutet Optimierung? Die Qualität von Merkmalen der Entscheidungsalternativen soll maximiert werden. Bei einer Jobentscheidung könnten das Gehalt, Arbeitsort, Aufstiegschancen, Ruhm, Übereinstimmung mit persönlichen Neigungen, ökologische Verträglichkeit usw. sein, bei einer Partnerentscheidung sozialer Status, Aussehen, Gleichklang in den Interessen, Wohnort usw.
Das Motto der Optimierung: mehr ist besser.
Entscheiden in der Freiheit
Was aber, wenn Entscheidungen in Freiheit stattfinden, im Überfluss? Was, wenn Entscheidungen nicht stark binden, wenn Sie mit ihnen keine Türen “für immer und ewig” zuschlagen?
Ich würde sagen, dann sind Entscheidungen nicht länger zu optimieren. Die Regel für Entscheidungen in Freiheit lautet eher:
Entscheidungen in der Freiheit müssen nur gut genug sein.
Entscheidungen müssen nur solange passen, bis Sie sich wieder neu entscheiden können. Wobei… hm… eigentlich gilt das für alle Entscheidungen. Spürbar wird das nur erst, wenn die Möglichkeit zur Umentscheidung nicht “am Ende der Ewigkeit” liegt, sondern in absehbarer Zukunft. (Was einer als absehbar ansieht, ist aber wohl sehr subjektiv. Dem einen sind 10 Jahre absehbar, der anderen nur 10 Monate.)
Und was bedeutet “gut genug”? Entscheidungen sind gut genug, wenn Sie “Mindeststandards” für die Qualität von Merkmalen der Entscheidungsalternativen nicht unterschreiten. Das Merkmal “Gehalt” bei der Berufsentscheidung könnte z.B. den “Mindeststandard” 50.000 EUR/Jahr im ersten Berufsjahr haben. Merkmal “Arbeitsort” könnte den “Mindeststandard” haben, im Umkreis von 100 km vom Wohnort zu liegen. Bei der Partnerwahl könnten “Mindeststandards” sein, dass der Größenunterschied nicht mehr als 10 cm beträgt oder die Haarfarbe nicht Schwarz sein darf oder gemeinsame Rucksackreisen möglich sind.
“Mindeststandards” sind mithin Grundsätze derjenigen, die entscheiden sollen. Das können Sie als Individuum sein oder aber auch eine Gruppe.  Wer entscheidet, muss sich also klar über die Merkmale werden, nach denen die Entscheidungsoptionen verglichen werden. Und der muss sich über die gewünschten Qualitätsstandards dieser Merkmale im Klaren sein.
Entscheidungen in der Unfreiheit machen es sich da vergleichsweise einfach: sie brauchen nur eine Liste von Merkmalen und suchen dann die Alternative mit der maximalen Qualität.
Entscheidungen in der Freiheit hingegen brauchen darüber hinaus noch “Mindeststandards”. Die zu finden, kann etwas Zeit kosten. Dann allerdings sind “gut genug”-Entscheidungen viel effizienter. Denn sie müssen nur solange Alternativen suchen und abwägen, bis die erste gefunden ist, die die “Mindeststandards” erfüllt. Die wird dann sofort gewählt, sie ist gut genug.
Der Gewinn von “gut genug”-Entscheidungen liegt jedoch nicht nur darin, dass sie schneller sind, sondern auch in größerer Bewusstheit. Denn wer über “Mindeststandards” nachgedacht hat, der hat sich und das Entscheidungsthema mehr reflektiert. Um das Maximum zu wollen, muss man nicht nachdenken. Um den persönlichen Grundsatz zu finden, den “Mindeststandard” zu ermitteln, da ist mehr gefordert. “gut genug”-Entscheidungen halte ich deshalb für verantwortlicher, für belastbarer. Sie sind bezogen auf den Entscheider, der sich in den “Mindeststandards” ausdrückt. Optimierungsentscheidungen sagen demgegenüber wenig über den Entscheider aus; der verweist nämlich ganz schnell auf den Entscheidungsgegenstand, dessen Qualitäten er versucht hat zu optimieren.
Keine Angst vor Fehlern
Optimierungsentscheidungen und “gut genug”-Entscheidungen differieren deshalb auch im Umgang mit Fehlern. Optimierer müssen Fehler vermeiden, weil jeder Fehler sie mit der Unfreiheit konfrontiert. ""Mindeststandard”-Entscheider scheren sich hingegen wenig(er) um Fehler. Sie wissen, dass ihre Entscheidungen nicht von “unendlicher” Dauer sind. Sie können ihre Fehler demnächst durch eine neue Entscheidung korrigieren.
Das bedeutet, würde ich sagen: In einer Welt, deren Komplexität steigt, d.h. Fehler immer unvermeidbarer werden, werden Optimierungsentscheidungen kontraproduktiv.
Wenn die Komplexität also steigt, dann muss gleichzeitig die Freiheit zunehmen. Höhere Komplexität muss mit Verringerung von Bindungszwang einhergehen. Denn sonst können wir die steigende Wahrscheinlichkeit von Fehlern nicht kompensieren durch “gut genug”-Entscheidungen.
Gut genug mit Konsent
Konsent ist – Sie werden es sich inzwischen gedacht haben – die Entscheidungsform für “gut genug”-Entscheidungen. Denn Konsent basiert auf “Mindeststandards”, den Grundsätzen.
Nun kann man aber fragen: Was, wenn Entscheidungen in Unfreiheit getroffen werden müssen? Ist dann Konsent nicht der falsche Weg?
Meiner Meinung nach sollte diese Frage nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden. Ich halte sie für falsch gestellt. Sie geht von einer Welt aus, die so ist, wie sie ist, unabhängig davon, was wir wollen.
Was aber, wenn die Welt anders ist, wenn sie so ist, wie wir sie machen? Für so einer Welt würde ich formulieren:
Wenn wir Konsent als Ausgangspunkt für alle Entscheidungen nehmen, dann entwickeln wir uns in die Freiheit hinein.
Ich plädiere also für eine Umkehr des Kausalzusammenhangs.
Früher: Die Welt ist voller Unfreiheit(en), deshalb müssen wir unsere Entscheidungen optimieren. Unfreiheit und starke Bindungen diktieren den Entscheidungsmodus.
Morgen: Wir finden im Konsent grundsatzbezogene “gut genug”-Entscheidungen, die wir ändern, sobald wir erkennen, dass wir mit ihnen unsere Ziel nicht erreichen oder sie (geänderten) Grundsätzen nicht mehr entsprechen. Der Entscheidungsmodus führt zu Freiheit und schwachen Bindungen.
Ich persönlich ziehe dieses Weltbild vor. Ich möchte in einer Welt leben, die mehr Möglichkeiten bietet; dafür muss sie komplex sein. Dann muss ich Entscheidungen aber korrigieren können, weil Fehler ja unvermeidlich sind. Wenn ich mich wandle oder die Welt sich wandelt, dann möchte ich mich umorientieren können. Dafür brauche ich Freiheit. Und in der Freiheit entscheide ich dann schnell und verantwortungsvoll im Konsent.

Donnerstag, 11. November 2010

Keine Partnerschaft ohne Konsent

Immer wieder höre ich, dass Soziokratie bzw. Konsent eine schöne Sache seien, aber nur für diese oder jene Art von Organisation geeignet seien. Gerade neulich schloss zum Beispiel jemand aus, Konsent im privaten Bereich einzusetzen; ihm schien er ausschließlich für förmliche Organisationen geeignet.
Dem möchte ich widersprechen. Ich habe sehr, sehr gute Erfahrungen mit Konsent gerade im privaten Bereich gemacht. Hier möchte ich jedoch versuchen, es allgemeiner zu formulieren:
Kosent ist für mich die erste Entscheidungsmethode in jeder Form von Partnerschaft.
Der Grund ist ganz einfach: Partnerschaften sind auf Gewaltfreiheit gegründet zum Zwecke der Erfüllung der Bedürfnisse der Partner.
Gewaltfreiheit als Grundlage von Partnerschaft
Partner sind frei, in der Partnerschaft zu verbleiben oder sie zu verlassen. Keine äußere Gewalt hält sie darin. Und daraus ergibt sich, dass auch im Innenverhältnis keine Gewalt ausgeübt werden kann. Denn die würde dazu führen, dass das Opfer die Partnerschaft aufkündigt.
Anmerkung: Mit Gewalt meine ich, was immer die Freiheit eines Partners ohne dessen Zustimmung beschränkt. Sie kann sich auf Körper, Geist oder Seele beziehen. Was in einer Partnerschaft konkret als Gewalt empfunden wird, ist zum Teil sehr individuell. Der eine empfindet einen Kuss als Gewalt, der andere empfindet gefesselt zu sein als gewaltfrei.
Ich war versucht, Schmerzloigkeit der Freiheit hinzuzufügen. Aber ich glaube, das ist nicht nötig. Denn Schmerzlosigkeit ist Teil der Freiheit. Oder umgekehrt: Schmerz schränkt die Freiheit ein, nicht nur im körperlichen Bereich, wenn ein geklemmter Ischias das Gehen schwer macht.
Bedürfniserfüllung als Zweck von Partnerschaft
Wenn jemand ohne Zwang sich mit jemandem anderes zusammentut, dann zu einem Zweck. Welcher könnte das sein? Unabhängig davon, wie es sich nach außen darstellt, im Innern der Partner geht es immer darum, dass sie sich erhoffen, durch die Partnerschaft einige ihrer Bedürfnisse besser befriedigen zu können.
Welche das sind, ist von Menschn zu Menschn verschieden. Der eine Sucht in der Partnerschaft Sicherheit, der andere Wachstum, der nächste Anregung usw.
Partnerschaft hat damit zwei Grundsätze: Was immer entschieden und dann getan wird,…
  1. …soll dem äußeren Zweck der Partnerschaft dienen
  2. …soll im Einklang mit den persönlichen Bedürfnissen der Partner stehen
Und wie stellen die Partner fest, ob ihre Bedürfnisse erfüllt werden? Das fühlen sie. Gefühle sind die Gradmesser für Bedürfnisse und ihre Befriedigung. Sind die Gefühle schlecht, dann sind Bedürfnisse noch unerfüllt; sind sie gut, dann sind Bedürfnisse befriedigt.
Darüber lässt sich im Grunde nicht streiten. Sobald alle relevanten Wahrnehmungen vollständig und korrekt sind – oder anders: wenn offen und ehrlich kommuniziert wird –, tut man gut daran, Gefühle erstmal zu akzeptieren.
Fehlen hingegen noch Daten oder ihr korrektes Verständnis – auch das lässt sich nur über Kommunikation ermitteln –, kann es zu unangemessenen Gefühlen kommen.
Beispiel: Er ist eifersüchtig, weil sie in letzter Zeit später als gewöhnlich von der Arbeit kommt und irgendwie fadenscheinige Begründungen liefert. Sein Bedürfnis nach Nähe/Verbindung und/oder Sicherheit ist damit nicht befriedigt. Allerdings fehlt ihm eine Information, nämlich die, dass sie für ihn heimlich einen Tanzkurs besucht, um ihm bei der nächsten Einladung zu einem Fest eine Überraschung mit unerwartetem Tanzspaß zu bereiten.
Seine Gefühle sind verständlich und subjektiv “richtig” – aber sie beruhen auf einem Missverständnis und sind somit “objektiv” unangemessen.
Konsent als Basis
Wie lassen sich nun in solch gewaltfreier und auf Bedürfniserfüllung gegründeter Beziehung Entscheidungen finden?
Autokratie verbietet sich – außer in Ausnahmefällen. Autokratie ist gewaltvoll, da sie ihre Entscheidungen auch gegen den Willen von Nicht-Entscheidern durchsetzt. In der Autokratie ist nur der Entscheider frei.
Wie ist es aber mit der Demokratie? Die hat sich doch zum Ziel gesetzt, alle gleich zu berechtigen bei Entscheidungen. Entspricht sie damit nicht dem Geist von Partnerschaft?
Oberflächlich betrachtet, ja. Aber ich habe inzwischen meine Zweifel, ob Demokratie wirklich, wirklich passend ist, allemal in Zweierbeziehungen.
Mein Hauptargument: Bedürfnisse werden entweder überstimmt, d.h. sie interessieren nicht. Das ist höchst unbefriedigend für die überstimmten Partner. Oder Bedürfnisse bzw. ihre Gefühle werden verhandelt, weil ein Konsens angestrebt wird. Das scheint mir ihrer Natur zu widersprechen und Manipulationen Tür und Tor zu öffnen.
Demokratie dient für mich damit nur sehr bedingt und indirekt dem zweiten Grundsatz von Partnerschaften. Oder gar: Demokratie übt Gewalt aus über die, die überstimmt wurden. (Zwar gehört es zur Mitgliedschaft in einer demokratischen Organisation, freiwillig die Freiheit aufzugeben, sich dem Mehrheitsbeschluss zu widersetzen, doch wenn es um Gefühle und Bedürfnisse geht… dann ist es immer ungewiss, ob Menschen sich solchen Versprechen wirklich verpflichtet fühlen. Die ewige Aktualität des Themas ehelicher Treue ist dafür das beste Zeugnis.)
Autokratie widerspricht Partnerschaft ganz offensichtlich. Demokratie steht auch nicht 100% in der Linie mit Partnerschaft. Was nun? Konsent to the rescue ;-)
Ja, ich meine wirklich, dass Konsent von großer Hilfe für die Entscheidungsfindung in jeder Art von Partnerschaft ist. Oder zugespitzt: ohne Konsent geht es gar nicht. Meine Argumente:
  1. Konsent fördert die Kommunikation. Das ist gut, um Missverständnisse zu vermeiden, d.h. angemessene Gefühle entstehen lassen zu können. Kein Dissent, ohne Erklärung. Autokratie will keine Kommunikation, Demokratie braucht keine Kommunikation, aber Konsent kommt nicht ohne aus.
  2. Konsent erkennt Gefühle an und überträgt die Verantwortung für sie auf den, der sie hat. Ist das Gefühl schlecht in Bezug auf eine Entscheidung, dann heißt es “Konsent verweigern und drüber reden”. Konsent dient damit unmittelbar auch dem zweiten Grundsatz von Partnerschaften.
  3. Konsent versucht nicht, Gefühle vor dem Hintergrund eines Ideals von Harmonie (Konsens) zu manipulieren; Konsent ist insofern unpolitisch. Stattdessen setzt Konsent Gefühle/Bedürfnisse nur in Bezug zu anerkannten Grundsätzen (deren Gestaltung allen Partnern in Freiheit obliegt). Das bedeutet nicht, dass Konsententscheidungen keinen Kompromis darstellen können. Der wird jedoch in einem anderen Modus erreicht als bei der Demokratie.
Konsent ist schwieriger und zugleich einfacher als Demokratieentscheidungen. Schwieriger, weil am Anfang (und auch danach immer wieder) Klarheit über gemeinsame und persönliche Grundsätze hergestellt werden muss. Dafür ist Wille zu bewusstem Leben und reflektiertem/reflektierendem Umgang miteinander nötig. Das mag nicht jeder, das ist für manche mühsam. Aber es hilft nichts. Ohne solche Klarheit kann Partnerschaft nicht ihren beiden allgemeinen Basisgrundsätzen folgen.
Leichter ist Konsent dann jedoch, wenn Klarheit über die Grundsätze herrscht. Statt belastender Unterlegenheit oder mühsamer Konsensfindung kann mit Leichtigkeit jede Entscheidung auf Übereinstimmung nur mit den Grundsätzen geprüft werden. Eine Selbst- oder Fremdmanipulation von Gefühlen ist nicht nötig.
Konsent ist damit die Entscheidungsform, ohne die ich echte Partnerschaft in Gewaltfreiheit und zur allseitigen Bedürfnisbefriedigung nicht mehr denken kann.

Montag, 21. Dezember 2009

Guerilla-Soziokratie

Wer sich für Soziokratie interessiert, ist gerade am Anfang oft allein in seiner Organisation. Das kann sehr frustrierend sein. Denn wie soll eine Person eine ganze Organisation dazu bewegen, sich auf die Soziokratie einzulassen?

Aber auch wenn es schon eine kleine Gruppe gibt, die sich in einer Organisation mit Soziokratie beschäftigt, ist der Weg zu ihrer Einführung nicht immer klar. Womit beginnen? Muss die Organisationsleitung erst zustimmen, bevor es losgehen kann?

Es mag zwar vorteilhaft sein, wenn Soziokratie Unterstützung "aus der Chefetage" erhält und für einen endgültigen Umstieg ist das auch unverzichtbar. Doch losgehen kann es viel einfacher. Jeder, der sich mit den soziokratischen Prinzipien identifiziert, kann beginnen, sie in eine Organisation einzuführen. Jeder kann sozusagen ein Guerillakämpfer für die Soziokratie sein und "unter dem Radar" der Organisationsleitung operieren.

Solche Guerilla-Soziokratie beginnt mit eigenen Verhaltensänderungen. Jede (Grundsatz-)Entscheidung, an der ein Soziokratie-Interessierter teilnimmt, hat z.B. das Potenzial, in einen Konsent-Prozess transformiert zu werden. Dazu kann jeder beitragen. Ist ein solcher Prozess dann erfolgreicher als die üblichen Entscheidungen und der Guerilla-Soziokrat kann diesen Erfolg wiederholen, dann entsteht langsam ein Muster. Darauf kann verwiesen werden, um die Idee weiter zu verbreiten.

Sharon Villines, Mitautorin von "We the People", hat einen kleinen Leitfaden für solche Guerilla-Soziokratie zusammengestellt: http://www.sociocracy.info/applyingprinciples.html.

Viel Erfolg beim Anwenden!

Dienstag, 25. August 2009

Konsent

Soziokratische Kreise entscheiden im Konsent. Das ist eine der vier Säulen, auf der die Soziokratie ruht.
Konsent ist kein ursprünglich deutsches Wort, so dass dieser Entscheidungsprozess erklärungsbedürftig ist. Das Englische kennt zwar consent als Einwilligung oder Übereinstimmung, doch auch mit solcher Übersetzung ist das Besondere von Konsententscheidungen nicht eingefangen.

Bekannte Entscheidungsprozesse

Bekannt und verbreitet sind autokratische und demokratische Entscheidungsprozesse.
Die Autokratie kennt keine Gruppenentscheidungen. In ihr entscheidet einer und viele beugen sich der Entscheidung.
Die Demokratie hingegen gibt einer Gruppe Entscheidungshoheit und definiert als Entscheidungskriterium die Stimmenzahl. Überschreitet die Zahl der Stimmen für eine zur Wahl stehende Option ein definiertes Mindestmaß, gilt die Entscheidung zugunsten der Option getroffen.
Demokratie basiert damit auf Zustimmung. Ausschlag geben positive Stimmen für Optionen. Wie eine Gruppe zu einer entscheidenden Zahl an Stimmen kommt, ist allerdings nicht Sache der Demokratie.
Üblicherweise geht der demokratischen Abstimmung daher ein Konsensprozess voran. Sein Ziel ist es, die Positionen der Gruppenmitglieder so zu verändern, dass sie ihre Stimmen zu einer kritischen Masse auf einer Option vereinen.
In der Autokratie zählt also keine Stimme, in der Demokratie nur die positive Stimme, die Zustimmung.

Kritik der Demokratie

Demokratische Entscheidungen brauchen Zustimmung. Je mehr, desto besser. Breit akzeptiert ist jedoch, dass schon die einfache Mehrheit (1 Stimme mehr als die Hälfte der Zahl der Abstimmungsberechtigen) ausreicht, um einer Option den Zuschlag zu geben.
Was bedeutet es dann aber, wenn von 100% Wahlberechtigten nur 77% ihr Recht wahrnehmen und von denen sich 51% für eine Option entscheiden? Dann hat zwar eine bei der Wahl anwesende absolute Mehrheit entschieden – doch die repräsentiert nur rund 39% der Wahlberechtigten. Trotz demokratischem Prozess ist die Entscheidung dann von einer Minderheit gefällt worden; 61% haben ihr nicht zugestimmt.
Enthaltungen, die jederzeit ohne Angabe von Gründen möglich sind, verringeren also die Zahl der absolut nötigen Zustimmungen für eine Entscheidung. Sie sind quasi stillschweigende Zustimmungen zu wasimmer die übrig bleibende Mehrheit entscheidet. Enthaltungen können gem. der Übersetzung daher als consent im bisherigen Sinn angesehen werden.
Darüber hinaus ist Zustimmung in der Demokratie nicht zu qualifizieren. Es genügt, zuzustimmen. Die Gründe sind dem demokratischen Entscheidungsprozess einerlei. Auch das macht die Begünstigung von Minderheitsentscheidungen durch Enthaltung deutlich. Und es motiviert politische Händel im Konsensprozess, die unterhalb des Radars des Entscheidungsprozesses bleiben.
Ohne Begrenzung der Enthaltungen und ohne Einfluss auf den Konsensprozess läuft die Demokratie Gefahr, ihrem Anspruch nicht gerecht zu werden. Weder repräsentieren ihre Entscheidungen notwendig die Mehrheit der Wahlberechtigten, noch orientieren sich ihre Entscheidungen notwendig an der Sache.

Umwertung des Entscheidungskriteriums

Der Konsent tritt an, die Schwachstellen der Demokratie als Entscheidungsprozess auszubessern. Sein radikaler Ansatz ist dabei die Umwertung dessen, was entscheidungsrelevant ist:
Im Konsent ist nicht die Zustimmung das Entscheidungskritterium, sondern der Widerstand, die Ablehnung.
Eine Konsententscheidung fällt nicht durch Zählen von Zustimmungen zu Entscheidungsoptionen. Sie gilt vielmehr als solange noch nicht getroffen, wie es auch nur eine Gegenstimme gibt.
Damit adressiert der Konsent die Schwachstelle Enthaltung in der Demokratie. Er macht ganz deutlich, dass jede einzelne Gegenstimme zählt. Das heißt, Konsent stärkt das Individuum.
In der Demokratie zählt die Menge; nur viele Individuen vereint im Konsens können den Entscheidungsprozess beeinflussen.
Im Konsent ist es hingegen die einzelne Stimme, die Einfluss ausübt. Allerdings wirkt sie aus Sicht der Demokratie in entgegengesetzter Richtung:
In der Demokratie bezieht sich Einfluss auf die Entscheidung, im Konsent auf die “Nicht-Entscheidung”.
In der Demokratie muss Entscheidung mit Mehrheit herbeigeführt werden. Im Kosent “passiert Entscheidung”, sobald es keinen Widerstand mehr gibt.
Dieser Unterschied mag wie Haarspalterei klingen, er ist es aber nicht. Er ist aus mehreren Gründen groß:
  • Wenn jede einzelne Gegenstimme zählt, dann ist das eine viel größere Motivation, das Recht auf Gegenstimme auch auszuüben. Konsent verspricht damit eine größere Wahlbeteiligung.
  • Es ist kein Konsensprozess mehr nötig und auch nicht möglich. Selbst wenn eine Mehrheit aufgrund von Konsens zustimmend schweigt, ist das keine Garantie für eine Entscheidung in ihrem Sinne. Konsent verspricht damit eine größere Konzentration auf die Sache, weil politisches Taktieren zur Bildung von Mehrheiten keinen Einfluss auf Entscheidungen hat.

Herrschaft des Arguments

Die radikale Umwertung des Konsent kann allerdings nur funktionieren, wenn der Widerstand qualifiziert ist. Wo der Demokratie die Gründe für Zustimmungen egal sind, da legt der Konsent Wert auf die Begründung. Widerstände müssen daher erklärt werden, sie müssen Substanz haben.
Würde der Konsent einfach nur nicht entscheiden, solange noch eine Stimme dagegen ist, wäre wieder der Beeinflussung abseits der Sache Tür und Tor geöffnet.
Der Konsent lässt die Gegenstimme jedoch nicht unbefragt. Er will wissen, was der Grund für den Widerstand stand ist. Zur Gegenstimme gehört also auch ein Argument. Wer Widerstand leistet, muss erklären können, warum. Die Soziokratie sagt daher auch von sich, sie führe zur Herrschaft des Arguments.
Das ist womöglich sogar der zentrale Unterschied zwischen Konsent und Demokratie: bei der Demokratie geht es um die Herrschaft der Mehrheit, beim Konsent um die Herrschaft des Arguments.
Dort anonyme Stimmkarten oder Kreuze, hier persönlich vertretene Argumente.
Konsent ist nicht naiv und lässt sich von beliebigen Gegenstimmen dominieren. Einwände müssen Substanz haben, sie müssen sich auf die Sache beziehen. Ausgangspunkt mögen dabei Emotionen sein – am Ende jedoch ist Widerstand in der Sache bzw. im Fundament einer Gruppe zu gründen.
Nicht nur fördert Konsent dadurch sachorientierte Diskussion, er verspricht auch, effizienter als Demokratie zu sein. Demokratischer Konsens kann sehr langwierig sein – und am Ende nur zu einer Entscheidung für das Mittelmaß führen. Demokratie muss sozusagen erst Entscheidungskraft aufbauen.
Konsent hingegen ist aus dem Stand heraus entscheidungsfähig. Sobald es keinen begründeten Einwand mehr gibt, ist entschieden. Konsent braucht keine Kraft aufzubauen, sondern nur Widerstand auszuräumen. Das ist ein positiver Unterschied in zweierlei Hinsicht:
  • Es ist leichter, einen begründeten Einwand zu diskutieren als viele Meinungen unter einen Hut zu bringen.
  • Es ist leichter, keinen begründeten Einwand zu haben als zuzustimmen. Die persönliche Befriedigung durch Konsententscheidung ist damit höher als durch demokratische. Niemand muss sich einer Mehrheit unterlegen fühlen, denn jeder kann jederzeit ein Gegenargument vortragen.

Der Entscheidungsraum

Um den Konsent-Entscheidungsprozess zu verstehen, hilft es, sich ein Bild zu machen. Was sollen Entscheidungen eigentlich leisten? Sie sollen einen Weg von einem gegebenen Punkt zu einem Ziel wählen. Oder Sie sollen überhaupt einen Zielpunkt bestimmen.
Beispiele dafür bietet das tägliche Leben reichlich:
  • Eine Familie will sich für ein Urlaubsziel entscheiden. Mallorca und Norwegen stehen als Optionen auf der Liste.
  • Ein Unternehmen hat als Ziel eine Gewinnsteigerung von 5% im nächsten Fiskaljahr. Auf welchem Weg soll sie erreicht werden? Als Optionen stehen Preisanhebung, Steigerung der Automatisation (natürlich von einem externen Berater vorgeschlagen) und eine neue Marketingkampagne zur Wahl.
  • Ein Verein hat das Ziel, attraktiver für neue Mitglieder zu werden. Wie kann das am besten erreicht werden? Soll das Vereinshaus attraktiver gestaltet oder der Mitgliedsbeitrag gesenkt werden? Oder wären mehr Kennenlernabende der beste Weg?
Entscheidungen sind die Grundlage für Veränderungsprozesse in einem Zustandsraum:
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Der Demokratie ist es einerlei, welches Ziel im grundsätzlichen Gebiet aller Möglichkeiten ausgewählt oder welcher Weg zu einem gegebenen Ziel eingeschlagen wird. Solange sich die Mehrheit dafür ausspricht, soll es so sein. Für die Demokratie gibt es also keine Grenzen.
Anders beim Konsent! Der Konsent sieht sowohl den Möglichkeitenraum wie auch die Wege zu einem Ziel begrenzt. Für den Konsent gibt es einen fundamentalen Entscheidungsraum, in dem Ziele gewählt werden können:
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Zu gegebenen Zielen führen dann Entscheidungsgassen, in denen sich konkrete Entscheidungen bewegen müssen:
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Einwände sind für den Konsent nun dann begründet, wenn sie zeigen können, dass sich ein Ziel außerhalb des Entscheidungsraums oder ein Weg zu einem Ziel außerhalb einer Entscheidungsgasse liegt:
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Grundsätze

Wenn begründete Einwände sich auf Grenzen von Entscheidungsräumen und –gassen beziehen müssen, wie sehen dann diese Grenzen aus?
Grundsätze sind die Grenzen für Konsent-Entscheidungen.
Gruppen, die im Konsent entscheiden wollen, brauchen ein Fundament, auf dem sie stehen können. Vor Entscheidungen in einer Sache müssen sie sich daher eigentlich zunächst auf einer höheren Ebene entscheiden, wie der Rahmen für zukünftige Entscheidungen sein soll.
Um Konsent von der ersten Entscheidung an aber möglich zu machen, kann die Grundsatzfindung auch während der Diskussion von Widerständen stattfinden. Je grundsätzlich einiger sich eine Gruppe ist, desto eher funktioniert das.
Im Allgemeinen gilt jedoch: Grundsätze sollten vor konkreten Entscheidungen feststehen, um sich mit begründeten Einwänden für alle verständlich darauf beziehen zu können.
Beispiele für Grundsätze aus dem Alltag:
  • Eine Familie hat in Bezug auf Urlaube die Grundsätze, dass die Reise mit dem Wohnmobil möglich sein sollte und dass am Urlaubsort immer auch die Gelegenheit sein sollte, in einem Restaurant essen gehen zu können.
  • Eine Firma hat als Grundsätze, ihre Produkte für jeden erschwinglich zu halten, Qualität durch Handarbeit zu liefern und nicht bei jeder Mode mitzumachen.
  • Ein Verein hat als Grundsätze die Förderung der Jugend und ein attraktives Preis-Leistungsverhältnis; außerdem fühlt er sich der Tradition verpflichtet.
Sobald solche Grundsätze allen Gruppenmitgliedern klar sind, kann jeder für sich überlegen, ob Entscheidungsoptionen ihnen widersprechen oder nicht. Ist ein Widerspruch erkannt, sollte ein begründeter Einwand erhoben und damit eine Entscheidung gestoppt werden, bis die Gruppe mit diesem Einwand angemessen umgegangen ist.
Angemessener Umgang bedeutet, dass entweder gezeigt werden kann, dass doch keine Überschreitung der Grenzen vorliegt, der Einwand also nicht begründet ist. Oder der Einwand bezieht sich nicht wirklich auf einen Grundsatz.
Falls der Einwand jedoch begründet ist, ist die Entscheidungsoption anzupassen. Sie ist so zu verändern, dass sie  zumindest in Bezug auf den Einwand innerhalb der Grundsätze zu liegen kommt.
Eine dritte Möglichkeit besteht darin zu erkennen, dass der Einwand auf einen bisher noch nicht bedachten Grundsatz hinweist oder auf die Anpassung eines existierenden. Das ist gerade dann zu erwarten, wenn eine Gruppe beginnt, Konsent-Entscheidung zu fällen, ohne vorher ihr Fundament geklärt zu haben.
Exemplarisch hier einige Einwände in Bezug auf die obigen Beispielszenarien:
  • In der Familie wird als Einwand gegen den Urlaub in Spanien erhoben, dass man dort nur schwer mit dem Wohnmobil hinkäme. Die Fahrt sei lang und nach Mallorca auch eine Fährfahrt nötig. Das ist ein Einwand, der sich klar auf einen Grundsatz bezieht; hinter ihm steht die Meinung, dass der Grundsatz “mit dem Wohnmobil erreichbar” auch eine gewisse Bequemlichkeit oder maximale Reisezeit beinhaltet. Das ist ernst zu nehmen und zu klären, wo die “Belastungsgrenzen” für den Einwändenden liegen.
  • Im Unternehmen wird der Vorschlag zur Automatisation schnell mit dem begründeten Einwand abgewehrt, sie passe so gar nicht zum Grundsatz der Handarbeit am Produkt. Der Einwand gegen die neue Marketingkampagne jedoch ist nicht so einfach mit einem Bezug auf den Grundsatz, nicht jede Mode mitmachen zu wollen, zu begründen. Ein neues Marketing bedeutet nicht auch gleich, sich einer Modeerscheinung zu unterwerfen. Hier ist vielleicht der Grundsatz zu verfeinern oder die Marketingkampage besser zu beschreiben.
  • Der Vorschlag, das Vereinshaus neu zu streichen, trifft auf Widerstand, der sich auf die Tradition beruft. Es habe schon immer so ausgesehen und stelle – gerade mit blasser gewordener Farbe – eine Denkmal der Vereinstradition dar. Nach einiger Diskussion stellt sich jedoch heraus, dass es dem Einwändenden gar nicht wirklich darum geht, die blasse Farbe zu erhalten, sondern keine Mühe mit dem Neuanstrich zu haben. Er hatte angenommen, dass Neuanstrich auch Eigenleistung von Vereinsmitgliedern erfordert. Diese Furcht kann der Vorstand ausräumen – geht aber noch weiter, indem er vorschlägt, einen neuen Grundsatz einzuführen: Vereinsmitglieder sollen nicht zu Eigenleistungen herangezogen werden bei baulichen Veränderungen am Vereinshaus. Darüber ist separat wiederum im Konsent zu entscheiden.
Im Konsent stimmt also zu, wer keine Kollision einer Entscheidungsoption mit existierenden Grundsätzen wahrnimmt. Umgekehrt ist jeder “zum Widerstand aufgerufen”, der meint, eine solche Kollision zu sehen.
Der Konsent-Prozess geht sogar soweit, jeden Wahlberechtigten ausdrücklich zu fragen, ob er einen Einwand hätte. So wird sichergestellt, dass niemand sich übergangen oder “untergebuttert” fühlt. Jeder soll bewusst Gelegenheit zum Einwand bekommen.

Vorläufigkeit

Einzelne Entscheidungen können im Konsent getroffen werden. Noch effektiver ist Konsent jedoch, wenn er häufiger durchlaufen wird, d.h. wenn sich Gruppen periodisch und absehbar immer wieder zu Entscheidungsrunden zusammenfinden.
Einzelne Entscheidungen verlieren dann ihren Nimbus der Unumstößlichkeit. Wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung klar ist, dass die Gruppe in 4 Wochen oder 3 Monaten wieder zusammenkommt, dann sinkt der Druck, sich hier und heute absolut klar darüber zu sein, ob man nicht doch vielleicht einen substanziellen Einwand hat.
Wo das Versprechen existiert, in absehbarer Zeit einen bis dahin gereiften Einwand vortragen zu können, da kann heute viel leichter damit gelebt werden, nicht zuzustimmen – aber eben auch keinen Einwand zu haben.
Periodische, verlässliche Entscheidungsrunden senken den Entscheidungsdruck durch eine implizite Vorläufigkeit aller Entscheidungen. Sie gelten eben immer nur uneingeschränkt bis zum nächsten Einwand.
Mit Konsent sind Gruppen viel dynamischer. Sie können sich schneller inneren und äußeren Änderungen leichter anpassen. Einwände erheben und diskutieren ist einfacher als Konsens herzustellen bzw. zu verändern.

Fazit

Konsent ist eine effiziente und effektive Alternative zur Demokratie, wenn Gruppenentscheidungen gefragt sind.
Indem Konsent nicht fragt, “Bist du dafür?”, sondern “Hast du einen schwerwiegenden, auf die Sache bezogenen Einwand?” werden Entscheidungen schneller gefällt und sind am Ende auch tragfähiger. Der Konsent hört jedem zu.
Probieren Sie es aus! Das kann beim Familieneinkauf im Supermarkt oder in der Gruppensitzung am Arbeitsplatz geschehen. Konsent ist leer, d.h. er eignet sich für Entscheidungen in jedem Themengebiet.
Suchen Sie den Widerstand und nicht die Zustimmung der anderen. Das verändert vieles. Macht es leichter, voran zu kommen.
Ein nicht zu unterschätzender Gewinn von Konsent ist auch, dass sich alle Beteiligten viel klarer über ihre persönlichen Grundsätze werden. Die Selbsterkenntnis des Einzelnen steigt und auch die der Gruppe. “Warum tun wir, was wir tun und wie wir es tun?” Diese Frage hilft Konsent zu beantworten – und macht damit zufriedener und sicherer.

Sonntag, 28. Juni 2009

Vom Wert der Emotionen

Immer wieder bemühen sich Organisationen, Entscheidungen emotionslos zu fällen. In Diskussionen sollen Emotionen zurückgehalten werden, um Konflikte zu vermeiden. imageWo kämen wir auch hin, wenn jeder ständig seinen Gefühlen nicht nur nachgehen, sondern auch noch Ausdruck verleihen würde? Rationalität ist das Gebot der Entscheidungsstunde. Außerhalb privater Beziehungen wird auf Emotionslosigkeit immer wieder als kleinstem gemeinsamem Nenner und Fundament für das gemeinschaftliche Aus- und Vorankommen verwiesen.
Die Soziokratie scheint nun auch in dieses Horn zu stoßen, wenn sie eine “Herrschaft des Arguments” aufrichten will. Denn Emotionen sind keine Argumente, d.h. keine “Beweismittel”. Mit ihnen lässt sich keine These belegen. Wenn als Entscheidung in einem Verein ansteht, den Mitgliedsbeitrag zu erhöhen, dann belegt ein Unwohlsein bei einigen Mitglieder nichts. Ärger, der hinter einem Ausruf wie “Eine Beitragserhöhung lehne ich kategorisch ab!” stehen mag, ist keine These und begründet auch keine.
Sollen Organisationen damit nun endlich durch Soziokratie in einem kalten Computerzeitalter ankommen? Sollen Menschen zwar in einem Kreis sitzen, aber gefälligst ihre Gefühle außen vor lassen?
Das Gegenteil ist der Fall!
Emotionen sind zwar selbst keine Argumente – doch die Soziokratie schätzt sie sehr. Abgesehen von der Unmöglichkeit, seine Emotionen außen vor zu lassen, sind Emotionen wertvolle Indikatoren. Gemeint sind hier natürlich negative Emotionen oder allgemeiner negative Empfindungen. Positive stehen Entscheidungen selten im Wege.
Ärger, Wut, Enttäuschung, Neid, Eifersucht, Unsicherheit, Trauer… das alles fühlt sich nicht schön an. Nichtsdestotrotz führen Entscheidungssituationen immer wieder dazu, dass wir so empfinden. Daran können wir kaum etwas ändern. Also sollten wir das beste daraus machen. Statt negative Empfindungen zu verdrängen oder zu ignorieren, sollten wir esser konstruktiv mit ihnen umgehen. Genau das tut die Soziokratie.
Autokratie interessiert sich gewöhnlich nicht für die Empfindungen von Befehlsempfängern. Demokratie zählt Stimmen – egal, wie die zustandekommen; wenn ein Konsensprozess die Emotionen kochen lässt, dann ist der Demokratie das egal. Es ist nicht ihr Thema.
Die Soziokratie hingegen verwendet viel Mühe darauf, nicht geheim, sondern immer offen jedes Kreismitglied nach seinem Standpunkt zu fragen. Auch bei Wahlen!
Der Prozess der Konsententscheidung verläuft in Runden:
image
In jeder Runde haben alle Beteiligten nicht nur Gelegenheit, sich zur anstehenden Entscheidung zu äußern, sie werden sogar aktiv nach ihrer Sicht befragt. Wie sie sich dann (im Rahmen des gegenseitigen Respekts und der guten Sitten ;-) äußern dürfen, ist jedoch aus gutem Grund nicht festgelegt.
Emotionale Äußerungen sind also absolut in Ordnung und durch die persönliche Ansprache in den Runden auch sehr wahrscheinlich. Niemand soll seine Empfindungen verbergen.
Der Grund dafür ist simpel: (Unreflektierte) Empfindungen sind erstens authentische Äußerungen. Damit sind sie untrennbar von den Menschen, die in einem Kreis sitzen, der ihnen dienen soll. Sie auszuklammern würde bedeuten, nicht vollständig am Kreis teilzunehmen.
Wichtiger jedoch ist das, worauf emotionale Äußerungen hinweisen können: auf gute Gründe, auf Bedürfnisse und auf Missverständnisse.
Missverständnisse lauern überall. Sie führen quasi unweigerlich zu Konflikten. Sie möglichst schnell aufzudecken, ist also hilfreich für jede Entscheidung. Ob ein Missverständnis vorliegt, lässt sich jedoch nur schwer durch direkte Befragung ermitteln. “Wer hat noch ein Missverständnis?” in den Kreis zu fragen, ist da nicht zielführend. Viel einfacher geht es, wenn der Kreis Emotionen zulässt. Wenn dann zum Thema Vereinsbeitragserhöhung sich zunächst nur Ärger äußert, dann kann man nachhaken – und vielleicht stellt sich heraus, dass der Ärger nicht per se an einer Beitragserhöhung, sondern an einer Detail hängt, zu dem eine Fehlinformation vorliegt. Vielleicht macht nur eine Beitragserhöhung innerhalb der nächsten 6 Monate Ärger. Wenn sich dann herausstellt, dass sie erst in 12 Monaten geplant ist, ist ein Missverständnis ausgeräumt – dank emotionaler Äußerung.
Sind alle Missverständnisse ausgeräumt, stellt sich die Frage, ob Emotionen Verkleidungen für gute Gründe oder substanzielle Einwände gegen einen Beschluss sind. Die Komplexität eines Sachverhalts oder Zeitdruck können den Blick einschränken, so dass Beschlüsse zur Diskussion gestellt werden, die gegen die Ziele eines Kreises verstoßen. Das muss nicht sofort erkennbar sein; sonst wäre ein Vorschlag ja womöglich auch gar nicht erst gemacht worden. In der Runde und durch die Diskussion mag sich jedoch der Eindruck verdichten, dass irgendetwas nicht mit einem Vorschlag stimmt. Das drückt sich dann zunächst in Emotionen aus. “Ich habe kein gutes Gefühl, wenn wir unser Produkt mit der neuen Eigenschaft XYZ aufmotzen.” könnte ein emotionaler Einwand in einem Unternehmenskreis sein. Natürlich fragt dann der Kreis nach. Die Empfindung darf nicht im Raum stehenbleiben. Ihr muss auf den Grund gegangen werden; ausgehend von der Emotion ist das dahinterliegende Argument zu finden. Es kann sich immer herausstellen, dass hinter einer Emotion ein gewichtiger Einwand steht: Die Eigenschaft XYZ steht im Widerspruch zum Ziel, umweltfreundliche Produkte herzustellen. In der Euphorie, eine Eigenschaft gefunden zu haben, die das Produkt aufwertet, war das nicht bedacht worden. Nicht immer können alle Beteiligten alle Ziele komplette im Auge behalten. Aber die Kreissitzungen geben die Sicherheit, dass am Ende Vorschläge von vielen Augen begutachtet und von vielen Hirnen bedacht und mit den Zielen abgestimmt werden. So auch in diesem Beispiel. Ausgehend von einer Empfindung konnte ein Abweichung festgestellt werden. Der Kreis ist der Hüter seiner Ziele. Und Emotionen sind gute Signale, die auf Zielabweichungen hindeuten können.
Ohne Missverständnis und ohne Abweichung vom Ziel kann eine negative Emotion allerdings noch in einer weiteren Hinsicht als wesentlicher Einwand gelten. Sie kann auf eine Unterspezifikation image der Ziele hindeuten. Emotionen stehen für Bedürfnisse. Und Kreise sind die Orte, um die Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu befriedigen. Nicht unbedingt immer jedes Einzelne, aber im Rahmen eines Gesamtzwecks einer Organisation doch möglichst viele. Wenn sich eine Wohngemeinschaft soziokratisch organisiert und das Ziel “Harmonisches Zusammenleben” definiert, dann steht dem der Beschluss “Anschaffung eines Haustieres” nicht per se entgegen. Ohne Missverständnis und substanziellen Einwand in Bezug auf das definierte Ziel, kann eine emotionale Äußerung wie “Ein Haustier passt mir gar nicht in den Kram!” jedoch wesentlich und für die Gemeinschaft hilfreich sein. Warum passt dem Einwändenden ein Haustier nicht in den Kram? Weil er glaubt, damit Mühe zu haben? (Hier könnte ein Missverständnis vorliegen.) Oder sieht er dadurch die Harmonie innerhalb der Gemeinschaft gefährdet? (Hier könnte eine Zielabweichung liegen.) Nein, der Einwändende sieht ein Problem darin, dass eine immer größere Zahl von Menschen unter Tierhaarallergien leidet und es deshalb (für ihn oder andere Gemeinschaftsmitglieder) schwierig sein könnte, Partner oder Gäste einzuladen. Solche Flexibilität/Offenheit erscheint der Gemeinschaft natürlich wünschenswert. So erweitert sie ihre Zieldefinition auf “Harmonische, gastfreundliche und gesundheitsbewusste Gemeinschaft”. Sie erkennt damit an, dass das Bedürfnis nach Harmonie nicht das vordringlich bei Beschlüssen zu berücksichtigende ist.
Emotionen, dumpfe Befindlichkeiten sind also legitime Ausgangspunkte für Argumente. Die Soziokratie heißt sie daher willkommen. Allerdings: Emotionen sind nur der Anfang. Sie sind das Ende eines Fadens, an dem das Argument aus den tiefen des Unterbewussten oder des Herzens ans Tageslicht gezogen werden muss. Emotionen allein sind kein begründeter Einwand, denn bloße Freiheit von negativen Emotionen gehört selten zum Ziel eines Kreises.
Die Soziokratie misst also den Emotionen hohen Wert bei, auch – oder gerade weil – sie für eine Herrschaft des Argumentes plädiert.

Montag, 4. Mai 2009

Was macht Agilität in der Führung?

"Agilität" ist ein Begriff aus der Informatik. Dort war man vor einigen Jahren unzufrieden mit dem bis dahin traditionellen Vorgehen bei der Softwareentwicklung - bekannt unter dem Namen "Wasserfallmodel". Der etablierte Pfad führte nicht verlässlich zu guten Ergebnissen.

Ausgangspunkt Softwarebranche

So formierten sich einige Vordenker der Branche zu einer Gruppe und formulierten einen Gegenentwurf. Den nannten sie "Agile Softwareentwicklung" und deklarierten ihre Position im so genannten "Agilen Manifest". Sie stellen darin neue Sichtweisen/Praktiken den bis dato vorherrschenden gegenüber:

  • Individuen und Interaktionen haben Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen.
  • Funktionsfähige Produkte haben Vorrang vor ausgedehnter Dokumentation.
  • Zusammenarbeit mit dem Kunden hat Vorrang vor Vertragsverhandlungen.
  • Das Eingehen auf Änderungen hat Vorrang vor strikter Planverfolgung.

(Quelle: http://scrum-master.de/content/view/62/25/)

Für einen Außenstehenden mag es überraschend sein, wenn die Softwarebranche scheinbar erst im Jahr 2001 entdeckt, dass z.B. die Zusammenarbeit mit dem Kunden wichtig ist. Aber es hatte schon seinen Sinn, dass die Agilisten ihr Manifest so formuliert haben. Sicherlich war der Kunde auch schon vorher den Softwarefirmen wichtig - das hatte sich nur nicht in geeigneter Weise in ihrem Vorgehen bei der Softwareentwicklung ausgedrückt.

Kann es denn da aber Missverständnissee geben? Kann man ungeeignet mit dem Kunden umgehen? Ja, man kann.

Agilität als geeignete Haltung

Ungeeignet ist eine Haltung, wenn sie dem Offensichtlichen widerspricht. So war es mit der Softwarebranche, die den Kunden zwar kannte und sah, ihn aber hinter Regeln und Papierbergen zunehmend aus den Augen verlor.

Das widersprach dem Offensichtlichen, dass die Regeln und Papierberge nicht zu erfolgreichen Projekten führte, d.h. Ablieferung des Bestellten innerhalb von Geld- und Zeitbudget.

Der Grund dafür: ein Missverständnis bzgl. der Natur von Software. Die wurde (und wird auch immer noch in weiten Teilen der Branche) als maschinenähnlich angesehen. Und so war denn das Vorgehen bei der Softwareentwicklung ähnlich dem beim Maschinenbau.

Software ist Maschinen oder Gebäuden jedoch nur oberflächlich ähnlich. So mussten die traditionellen Ansätze früher oder später gegen eine Wand laufen. Die Erkenntnis, dass das schon lange der Fall war, führte 2001 zum Agilen Manifest.

Das trägt der wahren Natur von Software Rechnung. Die ist nämlich viel dynamischer als die von Maschinen. Die ist eher Lebewesen ähnlich oder einer Stadt. Denn Software ist ständig in Bewegung, sie wächst kontinuierlich. Wie ein Programm in 5 Jahren aussieht, weiß keiner, der heute beginnt, es zu entwickeln. Die Gründe dafür sind vielfältig. Am Ende ist die Konsequenz jedoch, dass sich für Software kein Plan bis zu ihrer Fertigstellung machen lässt. Software ist quasi nie fertig, auch wenn in Verträgen ein Auslieferungsdatum steht. Die erste Auslieferung ist nur der Anfang eines meist unabsehbar langen Weges weiterer, oft sehr tiefgreifender Veränderungen.

Solange also Pläne, aufwändige Dokumentationen, starre Prozesse die Softwareentwicklung bestimmen, solange sind Softwareprojekte nur schwer zum Erfolg zu bringen, weil die Umstände ihrer Natur widersprechen.

Dem wollte die Agile Softwareentwicklung etwas entgegensetzen. Sie definiert vier Eckpunkte (s.o.) für eine geeignete Haltung, eine, die der Natur der Software entspricht. Das Agile Manifest trägt also Dynamik Rechnung; es entwirft einen Umgang mit Unwägbarkeiten. Softwareentwicklung soll im Angesicht von Ungewissheit, Komplexität und Fluktuation verlässlicher als bisher allseits zur Zufriedenheit verlaufen.

Agilität für die Führung

Ungewissheit, Komplexität, Fluktuation in der Umwelt: damit muss die Softwareentwicklung klar kommen. Ihr Vorgehensmodell muss also hinreichend offen und flexibel sein.

Ungewissheit, Komplexität, Fluktuation in der Umwelt: damit muss auch Organisationsführung klar kommen. Heutige Organisationen lassen sich nicht mehr quasi am Reißbrett planen und "durchziehen". In Wachstumsmärkten, solange eklatanter Mangel mit Produkten zu kompensieren war, mag das noch gegangen sein. Oder als die Organisationsmitglieder noch nicht so auf ihre Individualität bedacht waren, mag das auch noch gegangen sein.

Verdrängungsmärkte, globale Märkte, Mangel an qualifizierten Mitarbeitern, individuelle, multikulturelle Mitarbeiter... das sind Umstände, unter denen linear denkende Autokraten nicht mehr geeignet führen können. Diese Umstände verlangen - wie bei der Softwareentwicklung - Agilität. Es lohnt sich also, einen Blick auf das Agile Manifest von der allgemeineren Position der Organisationsführung zu werfen.

Was steckt also im Kern des Agilen Manifests, das sich auf Führung im Allgemein unter heutigen Umständen übertragen lässt?

Im Kern geht es bei den vier Punkten um zwei Grundhaltungen, die die Softwareentwicklung einnehmen soll, um der Natur von Software gerecht zu werden:

  • Die Softwareentwicklung soll zunächst einmal zuhören. Die Menschen, die ein Interesse an einer Software haben, sollen zu Wort kommen. Sie sollen im Vordergrund stehen und nicht in einem Prozess verwaltet werden. Sich persönlich "breitbandig" begegnen ist den Agilisten wichtig. Wissen, das in den vielen Köpfen der "Stakeholder" schlummert, soll gehoben, soll lebendig gemacht werden. Dazu sind Nähe und kontinuierlicher Dialog wichtig. Softwareentwicklung steht und fällt mit den Menschen und ihren Kommunikationsfähigkeiten. Wo Verantwortung an Werkzeuge technischer oder methodischer Art übertragen wird, tritt der Mensch in den Hintergrund. Ebenso bei übermäßiger Dokumentation. Denn nur eine lebendige Kommunikation ist so flexibel, wie es letztlich das Problemfeld verlangt, in dem Software eine Lösung sein soll.
  • Und dann soll das, was im Dialog herausgearbeitet wird, in einer Weise realisiert werden, dass es ständig weiter entwickelbar bleibt. Software ist insofern kein Produkt, was es einmal zu fertigen gilt, sondern ein Beitrag zur Kommunikation. Software ist eine Äußerung des Entwicklungsteams, auf die der Kunde wiederum mit Äußerungen reagieren kann und soll. Software ist also nicht außerhalb des Dialogs mit dem Kunden, sondern Bestandteil. Das bedeutet, sie muss letztlich so flexibel sein wie jeder Satz oder Gedanke in einer Kommunikation. Wie letztlich jede Aussage ist sie daher ganz fundamental immer nur eine These, ein Versuch - und damit nur solange gültig, bis sie falsifiziert ist. Softwareentwicklung ist eben Entwicklung, d.h. ein Lernprozess, und keine Produktion.

Agilität bedeutet also: genau hinsehen, ständig Daten sammeln, daraus Informationen generieren und diskutieren, im Fluss bleiben, Produkte als vorläufig betrachten und sie so konstruieren, dass neue Erkenntnisse jederzeit in sie einfließen können.

Agilität steht also ganz fundamental für einen fortschreitenden Lernprozess unter Einbeziehung aller Informationsquellen.

Um nichts anderes geht es auch der Soziokratie. Deren "Produkt" ist jedoch keine Software, sondern eine Organisation. Softwareentwicklung produziert Software. Führung produziert soziale Systeme, Organisationen.

Wenn Softwareentwicklung angesichts der Natur von Software besser agil abläuft, warum sollte dann nicht auch Führung angesichts der heutigen Natur on Organisationen agil sein?

Software ist ein sich ständig wandelndes komplexes technisches System eingebettet in soziale Systeme, deren Wandel es sich anpassen muss.

Organisationen sind komplexe soziale Systeme eingebettet in andere soziale Systeme, deren Wandel sie sich anpassen müssen.

Und genausowenig wie festgefügte, quasi autokratische Prozesse, Regeln, Werkzeuge der Softwareentwicklung helfen, genausowenig helfen sie heute noch der Führung von Organisationen. Deshalb sollte die Führung von Organisationen agil werden.

Agilität als Haltung in Bezug auf Unvorhersehbarkeit und Komplexität, entwickelt aus einer offensichtlichen Not der Softwarebranche heraus, hat also Bedeutung über diese Branche hinaus. Agile Führung ist nicht nur möglich, sondern nötig.

Montag, 9. Februar 2009

Entscheidungen unterscheiden

Wo im Unternehmen sich Soziokratie entfalten soll, hat schon der Artikel über Führung vs. Tagesgeschäft thematisiert. Weil diese Positionierung aber so wichtig ist, hier noch eine weitere Perspektive: Um welche Entscheidungen geht es in soziokratischen Kreisen eigentlich?
Zwei Begriffe Entscheidungsanlässe oder -zwecke lohnen sich zu unterscheiden:
  • Ausführungsentscheidung
  • Rahmenentscheidung
Ausführungsentscheidungen sind Entscheidungen, die sich darum drehen, was konkret getan werden soll. Es sind Entscheidungen im operativen Geschäft. Das wird zwar durch die Grundsätze und die Politik der Führung schon in gewisse Bahnen gelenkt; aber innerhalb dieser Bahnen müssen und sollen natürlich weitere Entscheidung aufgrund der lokalen Datenlage getroffen werden. Vorgesetzte und ihre Mitarbeiter führen aus, was andere in einem größeren Zusammenhang als Leitlinie vorgeben. Dazu treffen sie Ausführungsentscheidungen. Mit ihnen koordiniert der Vorgesetzte auch seine Mitarbeiter.
Rahmenentscheidungen sind solche, die den Rahmen für das Tagesgeschäft festlegen. Die Führung eines Unternehmens trifft diese Entscheidungen. Sie definieren Grundsätze und Politik der Organisation und sollen insbesondere von der Linie ausgeführt werden.
Die Soziokratie konzentriert sich nun auf diese Rahmenentscheidungen. Alle Entscheidungen, die den Rahmen für das Tagesgeschäft aufspannen - z.B. Welche Mindestqualität sollen die Produkte haben, die das operative Geschäft einkauft? Wer soll im operativen Geschäft koordinieren und Ausführungsentscheidungen treffen? Wie soll der Prozess zur Bewilligung von Urlaubsanträgen aussehen? -, diese Entscheidungen sollen im soziokratischen Konsent getroffen werden.
Wie das Tagesgeschäft zu Ausführungsentscheidungen kommt, darüber macht die Soziokratie keine nähere Aussage. Auch das wird vielmehr in einer organisationsindividuellen Rahmenentscheidung definiert. Und so verträgt sich die Soziokratie mit der Autokratie und auch der Demokratie. Denn ein soziokratischer Führungskreis kann natürlich entscheiden, dass bestimmte Ausführungsentscheidungen autokratisch und andere demokratisch gefällt werden sollen.

Sonntag, 8. Februar 2009

Warum sollte eine Gemeinschaft überhaupt führen?

Der Soziokratie geht es um die Führung von Organisationen. Ihr Ziel ist es, bisheriges autokratisches Management durch soziokratische Selbst-Führung zu ersetzen.

Aber warum sollte eine Organisation überhaupt durch die Gemeinschaft ihrer Mitglieder geführt werden? Oder spezifischer: Warum sollte ein Unternehmen durch die Gemeinschaft seiner Mitarbeiter geführt werden?

Soziokratie ist leer

Geht es um Gerechtigkeit? Geht es um Menschlichkeit? Geht es um eine bessere Welt und die Abschaffung jeder Unterdrückung der Vielen durch wenige Mächtige?

Das mag jeder Vertreter der Soziokratie für sich persönlich entscheiden. Die Soziokratie selbst als Methode jedoch ist solchen Fragen gegenüber indifferent. Die Soziokratie ist im doppelten Sinne leer: weder bezieht sie sich auf eine bestimmte Art von Organisation oder Branche, noch ist sie moralisch im herkömmlichen Sinn.

image Soziokratie ist ein Werkzeug. Nicht mehr, nicht weniger. Insofern kann sie richtig oder falsch, zum Guten oder zum Schlechten eingesetzt werden.

Also nochmal die Frage: Warum empfiehlt die Soziokratie die Führung einer Organisation durch ihre Mitglieder?

Der autokratische Homunkulus

Autokratie mag effizient sein - aber ist Autokratie auf effektiv?

Wikipedia definiert:

* Effizienz ist ein Maß für die Wirtschaftlichkeit (Kosten-Nutzen-Relation).

* Effektivität ist ein Maß für die Zielerreichung (Wirksamkeit, Qualität der Zielerreichung).

Peter Drucker hat das dann verkürzt auf:

* Effizienz: „Die Dinge richtig tun.“

* Effektivität: „Die richtigen Dinge tun.“

Die Prämisse der Autokratie ist, dass der Autokrat weiß, was das Ziel ist bzw. sein sollte und durch seine Macht die Qualität der Zielerreichung sicherstellen kann. Es kommt dann nur noch darauf an, dass das auch effizient geschieht. "Nicht lang schnacken..." ist das Motto der Autokratie; lieber zügig anpacken, so wie es der Autokrat durch seine Rahmenbedingungen vorgibt. Er weiß, was richtig ist und er definiert auch die Grundsätze dafür, wie das dann richtig getan wird.

image Bei der Autokratie hängen Wissen und Wille und Macht unmittelbar zusammen.

Damit ist der Autokrat quasi der Homunkulus im sozialen System seines Unternehmens: er kennt das Ziel, er überwacht den Weg dahin, er befiehlt die Bewegungen seiner Glieder, er definiert den Weg für die Ausführung.

Autokratie hat den Sinn für´s Richtige verloren

Soziokratie bezweifelt nicht, dass Autokratie eine effiziente Führungsmethode ist. Soziokratie stellt sich daher auch nicht gegen die Autokratie per se. Sie möchte sie nur auf den Platz verweisen, wo sie ihre Vorteile ausspielen kann. Das aber ist heute eben nicht mehr die Führung von Organisationen.

Warum nicht? Autokratie ist heute ineffektiv! Die Prämisse der Autokratie gilt nicht mehr. Der Autokrat bzw. die autokratische Struktur ist heute zunehmend unfähig, das Organisationsziel zu bestimmen und auch noch zu definieren, wie es zu erreichen ist.

Autokratie hat den Sinn dafür verloren zu beurteilen, was richtig ist und wie der richtige Weg dorthin aussieht.

So ist die Umsetzung unter der Führung von Autokratie vielleicht noch effizient - aber es wird das falsche Ziel effizient erreicht.

Wenn ein autokratisch geführter Konzern auf den Druck der Medien allen Mitarbeitern jede Äußerung über ihren Arbeitsplatz verbietet, um einen Skandal über Spitzeleien klein zu halten, dann mag das sehr effizient geschehen - doch ist das auch die richtige Reaktion der Führung? Ist es effektiv, Mitarbeitern den Mund zu verbieten?

Tunnelblick durch institutionalisierte Messungen

Wenige können heute die Umwelt ihrer Organisation nicht mehr überblicken. Wenige haben kein vollständiges Bild mehr dessen, was draußen geschieht; vor allem haben wenige kein vollständiges Bild mehr von dem, was drinnen geschieht.

image Organisationen sind keine Versammlungen von Gleichgetakteten. Ihre Mitglieder sehen sich als Individuen mit einem eigenen, auch von der Organisation zu berücksichtigenden Willen. Organisationen sollten das jedoch nicht als Nachteil sehen, sondern auch die andere Seite der Medaille "Individuum" erkennen: Individuen sammeln über ihre unmittelbaren Anweisungen hinaus Daten. Einfach so.

Jeder Mitarbeiter ist also nicht nur als Willensträger potenzieller Querulant, sondern darüber hinaus wertvoller potenzieller Informant. Man muss ihn nur zu Wort kommen lassen.

Wer weiß über den Markt Bescheid? Das Marketing? Wer weiß über die Zufriedenheit der Kunden bescheid? Der Vorstand? Wer weiß über die Verschwendung an Ressourcen in der Produktion Bescheid? Der Abteilungsleiter des Lagers? Oder der Einkauf?

Dass der Autokrat nicht alles weiß, weiß selbst der Autokrat. Deshalb baut er zur Informationsgewinnung ein bürokratische Systeme auf: Controlling, Score Cards, Reviews, Vorschlagswesen, Kummerkasten...

Klingt gut - funktioniert aber nur begrenzt. Solche Messinstrumente messen nämlich nur, was der Autokrat vorher zu messen gewünscht hat. Und das messen sie auch noch ineffizient.

Institutionalisierte Messungen draußen und drinnen sind somit nicht wirklich sensibel und proaktiv. Ihr Raster ist genauso vorgegeben wie ihre Abtasthäufigkeit. Das wirklich Unerwartete, Neue, Innovative, also das wirklich wertvolle hat durch diese Kanäle kaum eine Chance, zum Homunkulus vorzudringen. Intitutionalisierte Messung ist schmalbandig.

Schmalbandigkeit ist nun allerdings das komplette Gegenteil davon, wie es im Leben zugeht. Leben ist breitbandig. Immer und überall passiert etwas. Wer da meint zu wissen, auf welchen Kanälen Relevantes geschieht, ist in der heutigen Welt zumindest naiv. So mag es früher gewesen sein. Heute hingegen mag die Idee eines Laufburschen aufgrund einer Zeitungsnotiz mehr Relevanz haben, als die letzte Börsenanalyse. Naiv, wer meint, solche Ideen über intitutionalisierte Messungen einfangen zu können. Arrogant, wer meint, auf solche Ideen verzichten zu können.

Die Welt ist zu vernetzt und zu schnelllebig, als dass autokratische Zentralen ihre Organisationen wie früher durch den Markt lenken könnten. Auf eine komplexe Umwelt kann nur eine komplexe Führung angemessen reagieren. Autokratische Führung ist per Definition jedoch nicht komplex. Je komplexer die Umwelt wird, desto mehr schrumpft ihre Wahrnehmung auf einen Tunnelblick.

Effektive Führung braucht die Gemeinschaft

Komplexität kann nur durch Komplexität bewältigt werden. Wenn die Komplexität in der Umwelt durch Vernetzung steigt, muss die Organisation darauf mit Komplexitätszuwachs in der Führung antworten.

Diesen Komplexitätszuwachs kontrollieren zu wollen, wäre dabei ein Widerspruch in sich. Er sollte nicht kontrolliert, sondern nur in einem Forum zweckgerichtet stattfinden. Ein solches Forum bietet die Soziokratie.

Ihr Credo lautet: Versammle die Menschen einer Organisation in soziokratischen Kreisen, um dort spontan die zur Führung nötige Komplexität entstehen zu lassen. Wo Menschen gleichberechtigt zusammenkommen, da vernetzen sie sich, da entsteht Komplexität.

Soziokratie ist doppelt leer. Ihr einziger Zweck ist die effektive und effiziente Führung von Organisationen angesicht steigender Komplexität. Soziokratie ist an der (Über)Lebensfähigkeit von Organisationen gelegen. Dafür sieht sie keinen anderen Weg, als die breite Beteiligung ihrer Mitglieder an den Führungsentscheidungen. Nur wo die Organisation "die Weisheit der Gemeinschaft" anzapft, dann kann sie für sich nachhaltig handeln.

Dass dabei auch noch die Zufriedenheit der Gemeinschaftsmitglieder steigt, weil sie sich anerkannt fühlen durch die Einbeziehung und Veranwortung, ist ein schöner Nebeneffekt. Oder: Warum zwischen Haupt- und Nebeneffekt unterscheiden? Im Grunde ist nicht zu entscheiden, wo die positiven Effekte beginnen. Führt die Partizipation aller an der Führung zu angemesseneren Reaktionen der Organisation und dadurch zu mehr Zufriedenheit? Oder führt mehr Zufriedenheit zu noch mehr Partizipation? Unterm Strich gilt: Geht es den Organisationsmitglieder in und mit der Organisation gut, so geht es auch der Organisation mit ihren Mitgliedern gut.

Indem die Soziokratie nicht einfach predigt, Organisationsmitglieder sollten auch gemeinschaftlich führen, sondern dafür eine ganz bestimmte Form jenseits des überkommenen Modells Demokratie definiert (Kreishierarchie, Kosent-Entscheidungen), integriert sie die Bedürfnisse sowohl der Individuen wie auch der Organisation. Beide sind aufeinander angewiesen, also müssen beide beachtet werden.

Autokratie stellt die Bedürfnisse der Autokraten und die des Unternehmens (Ganzes) über die der Individuen (Teile). Demokratie stellt die Bedürfnisse der Individuen (Teile) vorne an - lässt durch Effizenzmangel aber das Ganze aus dem Blick.

image Soziokratie nimmt Teile und Ganzes ernst. Denn in einer komplexen äußeren und auch inneren Welt kann das Ganze der Organisation nur noch wirklich effektiv sein, wenn es seine Teile wertschätzt und zu Wort kommen lässt. Das Ganze kann sich nicht mehr leisten, seine Teile zu ignorieren oder auch nur zu gängeln. Andererseits können sich die Teile nicht mehr leisten, sich dem Ganzen zu ergeben; und selbst wenn sie es könnten, sie wollen das ja auch nicht mehr.

So ist Soziokratie eine partizipatorische, integrative, ganzheitliche und systemische Methode zur Führung von Organisationen.

Samstag, 7. Februar 2009

Das Sozio in der Kratie

Soziokratie bedeutet ganz allgemein "Gemeinschaftsherrschaft".  Genaueres finden Sie hier und hier. An dieser Stelle soll es nur um einen näheren Blick auf die Gemeinschaft der Herrschaft, das Gemeinschaftliche gehen. Wie unterscheidet das "Sozio" in "Soziokratie" diese "Herrschaftsform" von anderen?

Autokratie

image Der Kontrast zur Autokratie könnte Größer nicht sein. Sie setzt klar auf die Herrschaft eines Einzelnen (oder ganz weniger) über viele. Einer sagt an, die Masse gehorcht. Das kann zwar sehr effizient sein - aber es gibt keine Garantie dafür, dass Bedürfnisse über die der Autokraten hinaus berücksichtigt werden. In der Definition von Autokratie findet sich kein Hinweis auf die Interessen der Befehlsempfänger. Sie sind allein vom Wohlwollen der Autokraten abhängig.

Demokratie

Aber was ist mit der Demokratie? Als Volksherrschaft ist sie der Gegenentwurf zur Autokratie. Sie nimmt für sich in Anspruch, die Bedürfnisse aller zu berücksichtigen. (Zumindest derjenigen, die zum Volk gehören und eine Stimme haben.) Ist Demokratie damit nicht schon genug Herrschaft der Gemeinschaft? Warum die Unterscheidung zwischen Demokratie und Soziokratie?

Als Gegenentwurf zur Autokratie ist es das Hauptanliegen der Demokratie, vor allem den Makel der Autokratie ausmerzen: die Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der Befehligten. Demokratie ist daran gelegen, nicht die Wünsche weniger, sondern die Wünsche vieler, die der Mehrheit zu erfüllen.

Das hat allerdings einen Preis: Demokratie ist ineffizient.

Wenn einer bestimmt, sind viele unglücklich - aber die Umsetzung geht schnell, weil der eine bei Zuwiderhandlung seine Macht spielen lässt. Autokratie ist insofern oft gleichzusetzen mit Angstherrschaft.

Wenn viele bestimmen, sind viele glücklich - aber die Umsetzung dauert lange. Denn bis die Vielen eine tragfähige Mehrheit gebildet haben, vergeht einige Zeit.

Wo viele Menschen mit ihren Bedürfnissen ein Forum haben, da stellt sich schnell heraus, dass diese Bedürfnisse oft weit auseinandergehen. Im Extremfall gibt es soviele Bedürfnisse ausgedrückt in Meinungen, wie es Gemeinschaftsmitglieder gibt. Für eine Entscheidung des Volkes ist jedoch eine Mehrheit nötig. Die Gemeinschaft als soziales System muss einen erkennbaren eigenen Wunsch haben. Als Schwelle dafür wird gemeinhin die 50%-Marke gewählt: erst wenn 50% der Gemeinschaftsmitglieder plus ein weiteres (50%+1) für dieselbe Option stimmen ("einfache Mehrheit"), gilt das als Ausdruck eines gemeinschaftlichen Willens.

Jenachdem, wieviele Meinungen es in einer Gemeinschaft gibt, kann der Weg zur einfachen Mehrheit lang und steinig sein. Es gilt zumindest soviel Konsens unter den Gemeinschaftsmitgliedern zu entwickeln, dass 50%+1 Stimmen auf eine Option entfallen.

Wie die neuere Geschichte der Demokratie gezeigt hat, ist das jedoch ein Preis, den Gemeinschaften bereit sind zu zahlen. Der Gewinn an Chance zur breiten Bedürfnisberücksichtigung ist groß genug im Vergleich zum Verlust an Effizienz.

Grenzen der Demokratie

In der Entscheidung über viele Belange vom Verein bis zur Nation mag der Verlust an Effizienz tatsächlich nicht schwer wiegen. Verständlich sollte es jedoch sein, dass sich Demokratie angesichts dessen bisher nicht als Herrschaftsweise in Unternehmen eingebürgert hat.

Unternehmen müssen oft effizienter über ihre Grundsätze und ihre Politik entscheiden, als es ein Konsensprozess erlaubt.

Dazu kommt, dass ein Unternehmen qua Definition autokratisch ist, da es wenige Gründer bzw. Inhaber hat - die Gesellschafter -, die aufgrund ihres Eigentums an der Firma sich nicht so gern das Heft vom "Volk" aus der Hand nehmen lassen.

Aber die Demokratie findet nicht nur in ihrer Ineffizienz eine Grenze. Ein weiterer Nachteil erwächst aus ihrer Definition, die verwoben ist mit dem Mehrheitsbegriff. Demokratie ist nicht nur wörtlich Volksherrschaft, sondern praktisch Mehrheitsherrschaft.

Klingt ganz natürlich und nicht schlimm? Nun, das hängt vom Standpunkt ab: Wer zur Mehrheit gehört, der findet das nicht schlimm. Wer aber zur überstimmten Minderheit gehört... der mag sich grämen. Wo 50%+1 Gemeinschaftsmitglieder bestimmen, sind 50%-1 Gemeinschaftsmitglieder notwendig unzufrieden. Zwar haben sie ihre Chance gehabt - doch am Ergebnis ändert das nichts. Auch Demokratie erfüllt gewöhnlich die Wünsche von 50%-1 Gemeinschaftsmitglieder nicht.

Das muss kein Problem sein, aber es kann. Ob es zu einem Problem wird, ist den überstimmten Gemeinschaftsmitgliedern überlassen. Wie verhalten sie sich nach ihrer Niederlage zur mehrheitlich ausgewählten Entscheidungsoption?

"Guter Sportsgeist" gebietet natürlich den Glückwunsch an die Mehrheit und willige Fügung in den Beschluss. Demokratie erwartet von der Minderheit, dass sie nach der Niederlage die Mehrheit so unterstützt, als sei die Entscheidung für die Minderheitsmeinung gefallen.

Aber ist das realistisch? Im Großen und Ganzen scheint es gut genug zu funktionieren. Vom Verein bis zur Nation leben wir damit, dass die Minderheiten zumindest gut genug bei der Sache der Mehrheit mitmachen. Darüber hinaus jedoch... Der mehr oder weniger offene Widerstand von Minderheiten ist ein weiterer Grund, warum sich Demokratie nicht für den Einsatz in Organisationen anbietet, die kurzfristig Nutzen produzieren sollen.

Wo keine autokratische Macht herrscht, ist die Gefahr zu groß, dass, wer unterliegt, zu einem Widerstandsnest wird. Unberücksichtigte Wünsche verschwinden ja nicht. Sie verwandeln sich nur. Das ist innerhalb jedes Menschen so und kann bis zur psychischen Störung führen. Das ist auch so in sozialen Systemen.

Unterdrückte Wünsche, die nicht durch Macht über die Gemeinschaftsmitglieder kompensiert werden, suchen sich Ventile. Weitere Ineffizienz ist die Folge.

Von Demo zu Sozio

Autokratie ist effizient, aber ignorant der Gemeinschaft gegenüber. Demokratie ist ineffizient, aber gemeinschaftsorientiert; dennoch erfüllen sich die Wünsche von 50%-1 der Gemeinschaftsmitglieder nicht.image

Tertium non datur?

Der Anspruch der Soziokratie ist es, die Vorteile beider Führungsmodelle zu verbinden und ihre Nachteile zu vermeiden. Das hört sich natürlich wie die Quadratur des Kreises an.

Dass der Soziokratie dennoch eine Lösung gelingt, liegt in ihrem Verzicht auf Konsens.

Wie die Demokratie geht es der Soziokratie darum, dass nicht einfach so Wenige über Viele herrschen. Sie gibt also den Vielen ein Forum.

Wie dieses Forum dann jedoch Entscheidungen trifft, das ist ganz undemokratisch. Die Soziokratie fragt nämlich nicht nach der Zahl der Stimmen für eine Option. Ihr ist es egal, wer dafür ist. Sie interessiert sich auch nicht für platte Meinungen.

Für die Soziokratie zählen allein Argumente. Und zwar Gegenargumente. Ihr ist daran gelegen, Widerstände gegen Optionen aufzudecken. Und sind die Widerstände in Form substanzieller Gegenargumente geäußert, dann arbeitet die Soziokratie an ihrer Integration.

Die Gemeinschaft ist in der Soziokratie kein Gebilde, das mühsam geeinigt werden müsste. Sie ist vielmehr Menge von Sensoren, die wertvollen Input über Grenzen der Machbarkeit und Eignung von Entscheidungsoptionen liefern kann.

Eben das macht Soziokratie dann auch effizient. Ohne Konsenszwang kann sich die Gemeinschaft darauf konzentrieren, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Und zwar substanzielle Hindernisse, denn in der soziokratischen Gemeinschaft geht es ums sachliche Gegenargument. Negative Emotionen zu einer Option sind als Einstieg in die Diskussion willkommen - aber sie müssen dann auf substanzielle Widerstände zurückgeführt werden können.

Das geht aller Erfahrung nach deutlich schneller als die Erzielung eines Konsens. Das hält Widerstände sichtbar, statt sie durch Überstimmungsniederlage in den Untergrund zu treiben. Das nimmt gerade die negative Befindlichkeit jedes Gemeinschaftsmitgliedes ernst.

Soziokratie bezeichnet sich daher auch gern als "Herrschaft des Arguments". Wo bei der Demokratie letztlich nur das Kreuz auf einer Wahlkarte ohne jede Erklärung ausreicht, da wird die Soziokratie persönlich. Sie will es genau wissen, warum sich ein Gemeinschaftsmitglieder nicht gut mit einer zu fällenden Entscheidung fühlt. Denn nur das zählt. Egal wieviele dafür sind, am Ende ist jeder latente Widerstand ein potenzieller Keim für Ineffizienz im Tagesgeschäft der Organisation.

Autokratie interessiert sich nur für die wenigen Autokraten. Demokratie interessiert sich vor allem für die (anonyme) Mehrheit.

Soziokratie integriert beide Sichtweisen in einer Gemeinschaft, die jedem Einzelnen mit seinen Gegenargumenten Gehör schenkt.

Freitag, 6. Februar 2009

Führung vs. Tagesgeschäft

Um zu verstehen, wo Soziokratie sich in einer Organisation verortet, ist es nützlich, das was Organisationen so tun, in zwei ganz unterschiedliche Kategorien zu scheiden:

  • Führung
  • Operatives Geschäft, Linie, Tagesgeschäft

image Diese beiden Tätigkeitskategorien oder Organisationsaspekte sind in den üblichen Organigrammen vermischt. Das ist ein Teil der Schwierigkeit von Soziokratie, sich verständlich zu machen. Deshalb hier die klare Trennung:

Tagesgeschäft

Zweck von Organisationen ist das, was sie im operativen Geschäft tun: sie produzieren Schuhe, lehren Schüler, bieten Menschen Unterkunft, klären Verbrechen uvm. Wertschöpfung in irgendeiner Form ist das Tagesgeschäft von Organisationen. Dazu werden sie gegründet. Wo vorher weniger war, da ist durch ihre Tätigkeit später mehr.

Organisationen erfüllen die Anforderungen von Nutzern. Das sind funktionale Anforderungen und nicht funktionale. Eine  funktionale Anforderung an ein Restaurant ist die Zubereitung einer Speise; ihre funktionalen Zwecke sind Sättigung und Nahrhaftigkeit. imageEine nicht funktionale Anforderung wäre in diesem Fall zum Beispiel ein guter Geschmack oder Frische. Verbrecher sollen nicht nur geschnappt, sondern auch schnell und zuverlässig geschnappt werden. Eine Telefonauskunft soll nicht nur überhaupt erteilt werden, sondern auch zügig, selbst wenn hunderte Anrufer gleichzeitig danach verlangen.

Dazu kommen Tätigkeiten, die die "Nutzenproduktion" unterstützen. Buchhaltung, Reinigung, Sicherheit gehören dazu.

Tagesgeschäft ist, was innerhalb einer gegebenen Organisationsform und innerhalb eines gegebenen Regelrahmens abläuft. Tagesgeschäft führt aus, arbeitet ab, produziert.

Und da nicht jedes einzelne Organisationsmitglied im Tagesgeschäft alle Informationen besitzt, um seine Arbeit selbst optimal einzuteilen, muss das Tagesgeschäft koordiniert werden. Der Außendienstleiter teilt seine Außendienstmitarbeiter nach Lage der Verkaufszahlen ein. Der Brandmeister weist seinen Feuerwehrmännern Aufgaben nach Einsatzlage zu. Der Restaurantchef hält seine Kellner im wahrsten Sinneimage des Wortes am Laufen. Der Handwerks-meister sorgt dafür, dass seine Gesellen und Lehrlinge auf dem Bau alle etwas zu tun haben.

Die Organisation dieses Tagesgeschäftes ist ganz unterschiedlich. Kleine Gruppen koordinieren sich selbst, größere werden durch einen Leiter koordiniert. Befehlshierarchien sind die Norm. Eine (mehr oder weniger) autokratische Organisation ist einfach sehr effizient, wenn klar ist, was getan werden soll. Solange einer den Überblick hat, soll er auch ansagen. Dann kann er im Sinne der Organisationsgrundsätze koordinieren, um Wert zu schöpfen bzw. die Organisation am Laufen zu halten.

Hier ist Soziokratie nicht im Spiel. Mit Soziokratie koordinieren Sie das Tagesgeschäft nicht. Im Tagesgeschäft tut eine Organisation einfach, was zur Erreichung ihres Zwecks nötig ist. Die Linie setzt um, was ihr die Führung aufgeträgt.

Führung

Kategorisch zu trennen vom Tagesgeschäft der Organisation ist die Führung der Organisation. Führung "tut nicht", sondern definiert die Rahmenbedingungen für das Tun. Sie sind die Handläufe, Leitlinien, Grundsätze für das Tagesgeschäft.

In einem Call Center könnte ein Grundsatz lauten, "Jeder Anruf wird spätestens nach 30 Sekunden beantwortet." Aufgabe des Tagesgeschäftes ist es dann, diesen Grundsatz einzuhalten.

Die Firmenpolitik einer Druckerei könnte sein, möglichst ökologisch zu produzieren. Das hat Einfluss auf den Einkauf von Papier und Farbe und Maschinen. Und auch Marketing und PR werden dadurch geführt.

Führung stanzt aus dem, was grundsätzlich möglich wäre, um den Unternehmenszweck zu erfüllen, sozusagen einen Spielraum aus, in dem sich das operative Geschäft gewegen darf.

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Führung legt die Organisationspolitik fest. Sie ist wie ein Magnet, auf den sich alles Tun ausrichtet. Ihre vornehmste Aufgabe ist es, alle Aktivitäten ihrer Mitglieder kohärent zu machen.

Bei Führung geht es eher um das Was als um das Wie. "Wir wollen das beste Restaurant für französische Fischgerichte sein!" definiert, was die Geschäftsführung erreichen möchte. Wie die tägliche Umsetzung dieser Vision aussieht, ist dann Sache von Chefkoch und Restaurantleiter im operativen Geschäft. Der eine entscheidet über den Einkauf der dafür geeigneten Zutaten und kreiert anbetungswürdige Menüs, der andere entscheidet über Einsatzplan des Personals und empfängt die Gäste. Beide koordinieren, wasimmer zu tun ist, um das Restaurant zum besten für französische Fichgerichte zu machen.

Die Führung einer Organisation und die Koordination einer Organisation sind mithin zwei ganz unterschiedliche Aspekte. Führung bedingt zwar die Koordination, Letztere ist insofern also abhängig von Ersterer. Doch innerhalb ihrer "Hoheitsgebiete" sind beide frei. Deshalb können sie auch als unterschiedliche Dimensionen der Tätigkeiten in einer Organisation angesehen werden:

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Rollenspiele

In den meisten Organisationen sind die Aufgaben der Führung und der Koordination klar getrennt: hier die Geschäftsführung, der Vorstand, der Aufsichtsrat, das Management; dort die Linienabteilungen mit ihren Leitern und den Ausführenden.

imageimageDie meisten Menschen in einer Organisation haben danach eine klare Rolle: entweder sie führen oder sie werden geführt. Entweder sie bestimmen die Organisationspolitik und -grunsätze oder sie werden danach koordiniert.

Je nach Größe einer Organisation können dieselben Personen allerdings auch sowohl eine Führungsrolle wie eine Rolle im operativen Geschäft spielen. Der Meister eines Handwerksbetriebs ist oft z.B. auch sein Geschäftsführer; er bestimmt also nicht nur die Geschäftspolitik, sondern ist auch noch im Tagesgeschäft mit auf der Baustelle.

Für ein Verständnis der Soziokratie ist es allerdings hilfreich, die Rollen "Führer" und "Geführter" klar zu trennen. Tun, Denken, Fühlen, Sichtweise, Interessenlage unterscheiden sich in beiden Rollen stark.

Führung reflexiv

Führung ist auch eine Tätigkeit im Sinne des Organisationszwecks. Auch sie braucht daher Grundsätze. Ein solcher Grundsatz könnte zum Beispiel lauten, dass Entscheidungen über die Gewinnverwendung immer mit der ganzen Belegschaft abgestimmt werden.

Führung ist daher auch immer reflexiv, d.h. Führung führt nicht nur das Tagesgeschäft durch Rahmenbedingungen, sondern auch sich selbst.

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Diskussion der Begrifflichkeit

Ist es denn nicht aber so, dass ein Meister seine Gesellen auf der Baustelle auch führt? Führt nicht jeder Abteilungsleiter seine Abteilungsmitarbeiter? Findet Führung nicht auch im Tagesgeschäft statt?

Die Fragen mögen Sie sich stellen, wenn Sie den Erklärungen bis hierhin gefolgt sind. Die einfache Antwort darauf lautet auch: Ja, jeder, der anderen sagt, was sie tun sollen, führt auch. Zumindest im ganz allgemeinen Wortsinn.

Zum Verständnis der Soziokratie ist jedoch eine klare Unterscheidung wichtig zwischen dem, was das Management tut und dem, was die Linie tut. Wenn auf beiden Seiten geführt wird, dann kann sich Soziokratie nicht so einfach verorten. Führung auf allen Seiten, auf allen Ebene verwässert das Bild einer Organisation.

Statt nun aber zu dem, was das Management tut, "managen" zu sagen, scheint der deutsche Begriff "führen" naheliegender. Steuern ist zu sehr mit der Arbeit an Maschinen verknüpft; leiten scheint "zu schwach".

Im Englischen gibt es neben Management noch Governance und Leadership. Beides Begriffe, die mit dem, was hier als Führung bezeichnet wird, zu tun haben. Als Verben taugen sie jedoch wenig, selbst wenn sich "managen" schon in die deutsche Sprache eingeschlichen hat.

So scheinen einstweilen Führen und Führung geeignete Begriffe für das, was "der Kopf" einer Organisation tut. Und Koordination ist das, was stattfindet in der Linie. Koordination ist ein unbelastetes Wort und beschreibt recht genau, was höhere Hierarchieebenen im Tagesgeschäft tun: sie weisen ihre "Untergebenen" in einer Weise an, dass ein geordnetes Ganzes zum Vorteil von Organisation und Nutznießern entsteht.

Führung beobachtet, plant, entscheidet; Linie führt aus, koordiniert, verwaltet.