Freitag, 19. November 2010

Entscheidung in der Freiheit mit Konsent

Stellen Sie sich vor, Sie stünden vor der Entscheidung Ihres Lebens. Sie haben nur eine Chance und nur zwei Alternativen: Nehmen Sie das Jobangebot aus Tokyo an oder nicht? Oder: Heiraten Sie einmal im Leben und bleiben mit einem Menschen zusammen oder nicht? Oder: Werden Sie Gehirnchirurg oder Konzertpianist?
Die meisten Menschen würden bei solchen Entscheidungen sehr, sehr gründlich abwägen. Nicht umsonst gibt es das Sprichwort “Drum prüfe, wer sich ewig bindet.”
Entscheiden in der Unfreiheit
Ich denke, die allgemeine Regel könnte man so formulieren:
Je stärker Entscheidungen binden, desto größer der Optimierungsbedarf.
Bindung ist nun aber das Gegenteil von Freiheit. Wer gebunden ist, hat weniger Freiheitsgrade. Wenn Sie sich nicht für Tokyo entschieden haben, haben Sie eine Tür im Leben geschlossen. Einmal verheiratet, haben Sie sich gegen alle anderen potenziellen Partner(innen) entschieden – für Ihr ganzes Leben. (Zumindest war es früher einmal so.) Wer Gehirnchirurg ist, kann nicht gleichzeitig Konzertpianist sein und auch nicht Sternekoch oder Staranwalt.
Je stärker Entscheidungen für etwas ausschließen, sich früher oder später umzuentscheiden, desto geringer die Freiheit im Zusammenhang mit den Entscheidungen.
Wer nun aber Freiheit aufgibt oder nur geringe Freiheitsgrade hat, der versucht – ganz selbstverständlich – das Beste draus zu machen.
Wo irgendwelche “Ressourcen” stark belastet werden mit einer Entscheidung, da will sie wohl abgewogen sein. Sind Zeit, Geld, Aufmerksamkeit, Alternativen knapp, muss man sorgfältig auswählen.
Nun die umgekehrte Blickrichtung: Wo Entscheidungen optimiert werden, da muss wohl die Situation mit Unfreiheit zu tun haben. Da ist irgendetwas knapp. Da geht es um starke Bindung, d.h. spätere Alternativlosigkeit.
Was bedeutet Optimierung? Die Qualität von Merkmalen der Entscheidungsalternativen soll maximiert werden. Bei einer Jobentscheidung könnten das Gehalt, Arbeitsort, Aufstiegschancen, Ruhm, Übereinstimmung mit persönlichen Neigungen, ökologische Verträglichkeit usw. sein, bei einer Partnerentscheidung sozialer Status, Aussehen, Gleichklang in den Interessen, Wohnort usw.
Das Motto der Optimierung: mehr ist besser.
Entscheiden in der Freiheit
Was aber, wenn Entscheidungen in Freiheit stattfinden, im Überfluss? Was, wenn Entscheidungen nicht stark binden, wenn Sie mit ihnen keine Türen “für immer und ewig” zuschlagen?
Ich würde sagen, dann sind Entscheidungen nicht länger zu optimieren. Die Regel für Entscheidungen in Freiheit lautet eher:
Entscheidungen in der Freiheit müssen nur gut genug sein.
Entscheidungen müssen nur solange passen, bis Sie sich wieder neu entscheiden können. Wobei… hm… eigentlich gilt das für alle Entscheidungen. Spürbar wird das nur erst, wenn die Möglichkeit zur Umentscheidung nicht “am Ende der Ewigkeit” liegt, sondern in absehbarer Zukunft. (Was einer als absehbar ansieht, ist aber wohl sehr subjektiv. Dem einen sind 10 Jahre absehbar, der anderen nur 10 Monate.)
Und was bedeutet “gut genug”? Entscheidungen sind gut genug, wenn Sie “Mindeststandards” für die Qualität von Merkmalen der Entscheidungsalternativen nicht unterschreiten. Das Merkmal “Gehalt” bei der Berufsentscheidung könnte z.B. den “Mindeststandard” 50.000 EUR/Jahr im ersten Berufsjahr haben. Merkmal “Arbeitsort” könnte den “Mindeststandard” haben, im Umkreis von 100 km vom Wohnort zu liegen. Bei der Partnerwahl könnten “Mindeststandards” sein, dass der Größenunterschied nicht mehr als 10 cm beträgt oder die Haarfarbe nicht Schwarz sein darf oder gemeinsame Rucksackreisen möglich sind.
“Mindeststandards” sind mithin Grundsätze derjenigen, die entscheiden sollen. Das können Sie als Individuum sein oder aber auch eine Gruppe.  Wer entscheidet, muss sich also klar über die Merkmale werden, nach denen die Entscheidungsoptionen verglichen werden. Und der muss sich über die gewünschten Qualitätsstandards dieser Merkmale im Klaren sein.
Entscheidungen in der Unfreiheit machen es sich da vergleichsweise einfach: sie brauchen nur eine Liste von Merkmalen und suchen dann die Alternative mit der maximalen Qualität.
Entscheidungen in der Freiheit hingegen brauchen darüber hinaus noch “Mindeststandards”. Die zu finden, kann etwas Zeit kosten. Dann allerdings sind “gut genug”-Entscheidungen viel effizienter. Denn sie müssen nur solange Alternativen suchen und abwägen, bis die erste gefunden ist, die die “Mindeststandards” erfüllt. Die wird dann sofort gewählt, sie ist gut genug.
Der Gewinn von “gut genug”-Entscheidungen liegt jedoch nicht nur darin, dass sie schneller sind, sondern auch in größerer Bewusstheit. Denn wer über “Mindeststandards” nachgedacht hat, der hat sich und das Entscheidungsthema mehr reflektiert. Um das Maximum zu wollen, muss man nicht nachdenken. Um den persönlichen Grundsatz zu finden, den “Mindeststandard” zu ermitteln, da ist mehr gefordert. “gut genug”-Entscheidungen halte ich deshalb für verantwortlicher, für belastbarer. Sie sind bezogen auf den Entscheider, der sich in den “Mindeststandards” ausdrückt. Optimierungsentscheidungen sagen demgegenüber wenig über den Entscheider aus; der verweist nämlich ganz schnell auf den Entscheidungsgegenstand, dessen Qualitäten er versucht hat zu optimieren.
Keine Angst vor Fehlern
Optimierungsentscheidungen und “gut genug”-Entscheidungen differieren deshalb auch im Umgang mit Fehlern. Optimierer müssen Fehler vermeiden, weil jeder Fehler sie mit der Unfreiheit konfrontiert. ""Mindeststandard”-Entscheider scheren sich hingegen wenig(er) um Fehler. Sie wissen, dass ihre Entscheidungen nicht von “unendlicher” Dauer sind. Sie können ihre Fehler demnächst durch eine neue Entscheidung korrigieren.
Das bedeutet, würde ich sagen: In einer Welt, deren Komplexität steigt, d.h. Fehler immer unvermeidbarer werden, werden Optimierungsentscheidungen kontraproduktiv.
Wenn die Komplexität also steigt, dann muss gleichzeitig die Freiheit zunehmen. Höhere Komplexität muss mit Verringerung von Bindungszwang einhergehen. Denn sonst können wir die steigende Wahrscheinlichkeit von Fehlern nicht kompensieren durch “gut genug”-Entscheidungen.
Gut genug mit Konsent
Konsent ist – Sie werden es sich inzwischen gedacht haben – die Entscheidungsform für “gut genug”-Entscheidungen. Denn Konsent basiert auf “Mindeststandards”, den Grundsätzen.
Nun kann man aber fragen: Was, wenn Entscheidungen in Unfreiheit getroffen werden müssen? Ist dann Konsent nicht der falsche Weg?
Meiner Meinung nach sollte diese Frage nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden. Ich halte sie für falsch gestellt. Sie geht von einer Welt aus, die so ist, wie sie ist, unabhängig davon, was wir wollen.
Was aber, wenn die Welt anders ist, wenn sie so ist, wie wir sie machen? Für so einer Welt würde ich formulieren:
Wenn wir Konsent als Ausgangspunkt für alle Entscheidungen nehmen, dann entwickeln wir uns in die Freiheit hinein.
Ich plädiere also für eine Umkehr des Kausalzusammenhangs.
Früher: Die Welt ist voller Unfreiheit(en), deshalb müssen wir unsere Entscheidungen optimieren. Unfreiheit und starke Bindungen diktieren den Entscheidungsmodus.
Morgen: Wir finden im Konsent grundsatzbezogene “gut genug”-Entscheidungen, die wir ändern, sobald wir erkennen, dass wir mit ihnen unsere Ziel nicht erreichen oder sie (geänderten) Grundsätzen nicht mehr entsprechen. Der Entscheidungsmodus führt zu Freiheit und schwachen Bindungen.
Ich persönlich ziehe dieses Weltbild vor. Ich möchte in einer Welt leben, die mehr Möglichkeiten bietet; dafür muss sie komplex sein. Dann muss ich Entscheidungen aber korrigieren können, weil Fehler ja unvermeidlich sind. Wenn ich mich wandle oder die Welt sich wandelt, dann möchte ich mich umorientieren können. Dafür brauche ich Freiheit. Und in der Freiheit entscheide ich dann schnell und verantwortungsvoll im Konsent.